Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Ostwärts: Landwirtschaft

Nun trägt mich die Bahn durch endlose Felder und Weidengelände dahin. Noch nie habe ich so extensive Wirtschaft gesehen, und selten rationeller betriebene. Kein Landwirt von Kansas scheint Sport in der Ökonomie zu treiben, wie es der europäische immer noch tut, der aus Freude an der Sache so häufig teurer wirtschaftet — zu großartig baut, Unvorteilhaftes erhält, fruchtbares Land aus ästhetischen oder Pietäts-Rücksichten nicht nutzt usw. — als ihm ersprießlich wäre; aber auch keiner scheint kleinlich-praktisch, pennywise, bauernschlau, reaktionär aus Mangel an Wagemut: nur das unbedingt Zweckmäßige geschieht, dieses aber aus voller Hand. Und seltsam: diese großzügigen Wirtschaften, die nichts als Betriebe zum Zweck des Gelderwerbs sein sollen, bieten häufig schönere Landschaftsbilder dar, als die nordeuropäischen, an denen so viel mehr Liebe beteiligt ist. Das macht, dass nicht nur der oberste praktische, sondern auch der oberste ästhetische Grundsatz der Ökonomie ihre Rentabilität ist, weshalb unpraktische Verschönerungen gar oft als Verhäßlichungen wirken. Ich denke an die Gespräche amerikanischer Landwirte zurück, die ich im Laufe meiner Reisen hie und da zu überhören Gelegenheit fand. Ja, das sind großzügige Leute, und zwar typischerweise, während einer es bei uns bisher nur ausnahmsweise ist. Ihnen allein unter Landwirten erscheint es selbstverständlich, dass Initiative das beste Betriebskapital ist, dass Weitblick, selbst auf Kosten des Nächstliegenden, einträglicher ist als noch so scharfäugige Kurzsichtigkeit. Es sind starke, zielbewusste Männer. Aber ihnen fehlen alle die moralischen Eigenschaften, die den Landwirt, der auf ererbter Scholle sitzt, in Ländern alter Kultur so sehr adelt. Dem Erbherrn eines Rittergutes, dem besitzenden Spross eines alteingesessenen Bauerngeschlechts ist sein Betrieb, und leite er ihn noch so sehr nach rein ökonomischen Gesichtspunkten, eine Herzensangelegenheit; er fühlt sich ihm verpflichtet.

Melioriert er seine Äcker und Wiesen, so geschieht es mehr um dieser- als um seinetwillen; oder denkt er an sich, so meint er nicht seine Person, sondern sein Geschlecht. So hat sein Tun den tiefen Hintergrund, den das Wurzeln im überindividuellen Naturzusammenhang allein verleiht, so werden in seinem Wesen die Eigenschaften großgezogen, welche das Bewusstsein dieses Wurzeins zum Ausdruck bringen, und das sind die besten. Das ist es, weshalb der Beruf des Landwirts bei uns mit Recht als von allen praktischen der edelste gilt: dass er den Menschen wie keiner vertieft und wurzelecht macht. Aber mit gleichem Recht gilt er in den Vereinigten Staaten Amerikas nur als eine Industrie unter anderen: bedeutet Landwirtschaft nichts außer dem, dass Geld mit ihr zu verdienen ist, dann hat sie auch nicht mehr Sinn. So steht der amerikanische Landwirt menschlich nicht höher, als der Industrielle auf der ganzen Welt, und das will sagen: er ist als Typ vollkommen oberflächlich; eine Gelderwerbsmaschine; ja er stellt vielleicht den unangenehmsten Ausdruck des modernen Industrierittertums dar, weil man bei ihm unwillkürlich nach den Zügen ausschaut, die den Landwirt sonst vorteilhaft vom Industriellen unterscheiden und durch ihr Fehlen entsetzt wird. — Und von hier aus nun denke ich an China zurück. Welch’ überwältigender Unterschied! Wenn die Landwirtschaft in Amerika ein Gewerbe unter anderen, in Europa ein Gewerbe auf moralischer Grundlage ist, so ist sie in China ein Ausdruck des Moralischen schlechthin; dort fällt ihr materieller Vorteil kaum ins Gewicht. In China gehört der Einzelne der Familie, die Familie dem Geschlecht, das Geschlecht dem Grund und Boden, auf dem es sitzt; denn dieser ist ja seinerseits nichts Unlebendiges, sondern das irdische Symbol aller Vorfahren, um deren Grabhügel der Pflug im Zickzack fährt. Vom Standpunkte des materiellen Vorteils betrachtet, erscheint die chinesische Landkultur als sinnlos; sie bedeutet ein Minusmachen ohne Ende. Aber sie soll auch kein Erwerbsmittel sein: sie soll nur der moralischen Natur des Menschen ihre normale Betätigung sichern. Ihr verdankt der Chinese in der Tat seine einzigartigen moralischen Eigenschaften. Und betrachtet man von hier aus seine Betriebsart, dann erweist sie sich der amerikanischen als überlegen. Diese macht reich, aber sie macht flach und dürr; jene fristet nur Elend fort, aber sie züchtet überlegene Menschen.

Und doch ruht in der amerikanischen Auffassung der Landwirtschaft der Keim zu einem höheren Zustande, als er in den Ländern alter Kultur jemals verwirklicht ward: dem Zustand, wo das Bewusstsein der tiefsten Zusammenhänge des Lebens an kein materielles Substrat mehr gebunden erscheint. Je freier und tiefer selbstbewusst ein Mensch, desto mehr naturhafte Schranken darf er verleugnen, unbeschadet seines inneren Werts. Der höchste Mensch, den wir vorstellen können, ist vollkommen detachiert; er kennt keine geographische Sentimentalität, keine Vorliebe für diese oder jene Sitte, kein Vorurteil gegen irgendeinen Beruf, überhaupt keine Ausschließlichkeit in seinen Gefühlen; und das bedeutet bei ihm nicht, dass er kalt und gleichgültig wäre, sondern dass er das Stadium innerer Durchbildung erreicht hat, wo der Mensch im Sinne Gottes lieben kann, der ja auch keine Unterschiede gelten lässt. Die Richtung aller Kulturentwickelung weist dahin. Immer mehr befreit sich der Geist von der Materie, in der er ursprünglich involviert war, in jedem folgenden Kulturstadium steht der Einzelne ungebundener da. Geschähe diese Entwickelung nun so, dass die alten Formen zersprengt würden, nachdem der neue Inhalt ausgereift ist, dann führte sie geradlinig aufwärts. Aber sie geschieht nicht also, und aus guten Gründen. Auf dass das Neue sich entwickeln könne, muss das Alte vergehen, wenn jenes erst als Keim existiert. Deswegen bedingt aller äußere Fortschritt zunächst einen inneren Rückschritt, desto mehr, je weiter die Entwickelung der Form derjenigen des Gehalts vorausgeeilt ist. Dies ist der Sinn der fortschreitenden Barbarisierung, die mit der weißen Rasse eben jetzt vor sich geht.

Wir haben über der neuen Form das Bewusstsein des Gehaltes überhaupt verloren. Über ein Kleines aber wird es wieder wachsen, und dann wird es auch innerlich mit uns vorwärts gehen. Deswegen darf es nicht allzu tragisch genommen werden, wenn die Landwirtschaft, indem sie sich modernisiert, ihrer erzieherischen Kraft verlustig geht, wenn die Familienverbände sich lockern, der Berufs- und Klassenidealismus abflaut, ja der Patriotismus in Friedenszeiten immer weniger als Dominante der Volksseele erscheint: überall handelt es sich um ein Zerfallen der Form, auf dass ein neuer Inhalt sich heranbilden könne. Wenn einerseits die Form, wo sie gefestigt ist, den Inhalt meist überdauert, eilt andrerseits die neue dem Inhalt voraus; dies aber ergibt ein schlimmes Übergangsstadium. Wir sind in einem solchen mitten drinnen. Wir sind oberflächlicher, als irgendeine Menschenart, materiell gesinnter, dürftiger; dieses allgemeine Charakteristikum unserer Zeit tritt in Amerika karikiert in die Erscheinung. Aber wir sind nur deshalb oberflächlicher, weil unser Tiefstes in die neue Gestalt noch nicht hineingewachsen ist, nur deshalb materieller, weil unserer Spiritualität das entsprechende Ausdrucksmittel noch fehlt, nur deshalb dürftiger, weil wir unseren Reichtum nicht aufzuschließen wissen; und die Amerikaner wirken nur deshalb schlimmer noch als wir, weil bei ihnen die Spannung zwischen Form und Gehalt noch größer ist. Aber irgendeinmal wird das unerfreuliche Stadium hinter uns liegen. Und am frühesten wahrscheinlich in der Neuen Welt, weil dort im Kampf mit dem Alten keine Kraft vergeudet zu werden braucht und der innere Gehalt sich ohne Rückblick der neuen Form wird einbilden können.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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