Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Chicago: Im Schlachthof

Meinen Besuch im Schlachthof habe ich gemacht; kein erfreuliches Unternehmen. Und doch bin ich’s zufrieden: in größerer Vollkommenheit werde ich Maschinerie kaum wieder funktionieren sehen; in den Stock Yards scheint mir das äußerst Denkbare an Ausnutzung von Menschen und Zeit erreicht. So wenig Zeit wird hier verloren, dass ein Schwein in einigen zwanzig Minuten vom Leben zur Wurst befördert wird, ein Schaf in sechsundzwanzig Minuten zerlegt und ein Ochs in fünfunddreißig. Jeder Arbeiter tut ein Bestimmtes, in festgesetzten Abständen; jeder tut es auf die bestmögliche Art. Von Mensch zu Mensch vermitteln Maschinen. So kann ein einziger Schlächter in einer Stunde bequem ein halbes Tausend an ihm vorbeigehisster Schweine abstechen, und entsprechend geschwind geschieht alles Übrige vor sich.

Wie ich dastand und zuschaute, fiel mir die Parabel Dschuang-Tses vom Metzger ein.

Der Fürst Wen Hui hat einen Koch, der für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes und er traf immer genau die Gelenke.
Der Fürst Wen Hui sprach: Ei vortrefflich! das nenn’ ich Geschicklichkeit!
Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete, zum Fürsten gewandt: der Sinn (das Tao) ist’s, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich’s soweit gebracht, dass ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heute verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab’ ich aufgegeben und handele nach den Regungen des Geistes. (R. Wilhelms Übersetzung.) —

Ja, es ist wahr, solche Geschicklichkeit hat metaphysischen Sinn: sie bezeugt, dass die Bewegungen der Hände unmittelbar vom Prinzip des Lebens gelenkt werden; ob die Einheit mit ihm sich in vollkommenem Schlachten, in vollkommener Erkenntnis oder in vollkommenem Sein manifestiert, hängt von dem Ziele ab, das einer sich steckt. Auch die Schlächter von Chicago, gleich dem Koch des Fürsten Wen Hui, müssen sich dem Tao ergeben haben, um so Außerordentliches zu leisten. Aber entsetzlich wäre es, wenn ihre Art der Vollkommenheit fortan als Ideal menschlicher Entwicklung gelten sollte. Die Stock Yards sind ein schreckhaft lehrreiches Sinnbild dessen, was an den Zielen der modernen Zivilisation verfehlt erscheint. Das ideale Verhältnis zwischen Körper und Geist wäre dort erreicht, wo mit jeder Gebärde die Seele zu vollendetem Ausdruck käme, wie beim Bühnenspiel der Düse. In unserer Welt stellt es sich mehr und mehr so dar, dass die ganze verfügbare Kraft in ein Werkzeug überfließt, wodurch dieses wohl Fabelhaftes leistet, der Mensch jedoch zu existieren aufhört.

Der moderne Zweckmensch verkörpert den genauen Gegenpol des indischen Weisen: zieht dieser sich aus dem Äußeren ganz zurück, um in sich desto wirklicher zu sein, so verzichtet jener auf die Innerlichkeit, um in der Außenwelt Äußerstes zu leisten. Ihm verdanken wir die Wunder der Technik, eine unbedingte Bereicherung dieses Planeten; insofern muss man ihn gelten lassen. Man muss ihn gelten lassen, wie man den Fakir gelten lässt, den Clown, den Schlangenbändiger. Aber aufblicken darf man zu ihm nicht. Ihm fehlt das, was allererst den Menschen macht… Die Spirale der geschichtlichen Entwickelung hat auf erhöhter Stufe zu einer Wiederherstellung der Sklaverei geführt. Wieder wird der Mensch nach seiner Leistung allein beurteilt, wieder hat er nur Marktwert, und zwar gilt dies heute nicht bloß von Zwangsarbeitern, sondern von allen, denn im griechischen Verstände Freie gibt es nicht mehr; wer sich bei uns am unabhängigsten wähnt, sieht sich doch selbst kaum anders an, wie ein Phöniker seine Kriegsgefangenen. Wird auch der Kannibalismus wieder aufleben? In unserer aufgeklärten Welt stehen diesem gewiss weniger seelische Hemmungen entgegen, als unter abergläubischen Wilden. Es ist allzu wahr, was Tagore sagt: nirgends war Menschenfleisch und -seele je so billig, wie im modernen Westen. Keine Zivilisation hat je der ganzen Schöpfung gegenüber eine so entwertende Stellung eingenommen, wie die unsere, die ausschließlich des Nutzens gedenkt. Überantworten wir uns ganz der Logik dieser Entwicklungsrichtung, so wird der Verstand, je mehr sie sich entfaltet, desto mehr das Menschengeschlecht entseelen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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