Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

New York

Die moderne Großstadt ist immerhin ein Wunderbares. Wir Menschen haben heute keinen Grund mehr, zu Ameisen und Bienen aufzuschauen: was die an Zusammenarbeiten leisten, leisten wir auch. Und auch wir sind ohne Frage im Ganzen zu kollektivem Dasein geschaffen. Wem frommt die Einsamkeit? Dem Heiligen, dem Denker; schon dem Künstler nur zeitweilig; sämtliche übrigen leben zu vielen voller als allein. Viele Formen der Vergesellschaftung gab und gibt es; jede weist spezifische Vorzüge auf. Das moderne Großstadtleben nun ist wie kein anderes dem modernen Durchschnittsmenschen angemessen. Hier entsprechen sich Lebenstempo und Gelegenheiten, Bedürfnisse und Befriedigungsmöglichkeiten, Notwendig- und Wünschbarkeiten wirklich ganz so gut, wie dies für Ameisen in ihrem Haufen gilt.

Noch hie habe ich es so leicht gefunden, mich in einer Metropole zu orientieren, wie in New York. Die äußeren Lebensnotwendigkeiten sind so vollkommen hergerichtet, dass es scheint, man habe nur irgendwohin zu wollen — und schon ist man dort. Alles geschieht mit ungeheurer Schnelligkeit, und doch empfindet man gar keine Hast — weniger Hast jedenfalls als in London oder Berlin; man lebt geschwinder, ohne dass dies Unrast bedingte. Es wird eben nicht nur keine Zeit verloren: das Leben ist so gut organisiert, dass man keine verlieren kann, und dies Bewusstsein gibt der angepassten Seele die gleiche Ruhe, wie dem Inder das Gefühl, unendlich lange Zeiträume vor sich zu haben. — Das ist die Lösung des äußeren Lebensproblems, die einzige, die für Westländer in Frage kommt. Der Inder ist innerlich freier als wir, weil er auf die Außenwelt keine Aufmerksamkeit wendet; er ist frei auf Kosten seiner Macht über sie. Wir hatten, um diese Macht zu erlangen, unsere innere Freiheit vorläufig preisgegeben, und dies so sehr und in so steigendem Maße, dass sich mehr und mehr Stimmen erhoben, die da zurück riefen. Sie vergaßen, dass ein Zurück biologisch unmöglich ist und erst recht dem Verderben zuführen würde: haben wir uns einmal mit der Außenwelt eingelassen, dann heißt es, wir oder sie; unsere Mentalität, wie sie geworden, verschließt uns, außer in seltenen Ausnahmefällen, die Möglichkeit auf indisch zu entsagen. Unser Weg zur Freiheit führt über die besiegte Natur. Und in der Tat: wo diese wirklich besiegt ist, stellt Freiheitsmöglichkeit sich automatisch ein; dies beweist New York, beweist das ganze Amerikanerleben überall, wo es einen vollendeten Ausdruck gefunden hat. In Amerika wird, auf entgegengesetztem Weg, geradezu das Ideal des Inders erreicht. Das Leben hier erscheint im allgemeinen, verglichen mit dem europäischen, wesentlich vereinfacht, obgleich Komfort hier noch mehr gilt als dort und viel allgemeiner verbreitet ist: das Überflüssige wird nach Möglichkeit ausgeschaltet, das Notwendige auf die ökonomischste Art beschafft; in den Gasthäusern z. B. wird man kaum überhaupt bedient. Weshalb nur? — Ursprünglich beruht dies gewiss auf force majeure, der Notwendigkeit, mit wenig Menschenkräften auszukommen und von diesen, bei größtmöglicher Achtung ihrer Wünsche, den äußerstdenkbaren Gewinn zu erzielen; aber jetzt besteht das Regime der Einfachheit auch dort, wo es vermieden werden könnte und zwar deshalb, weil die meisten sich an dasselbe gewöhnt und eingesehen haben, dass sich auch ohne überflüssigen Aufwand, und zwar im ganzen besser, leben lässt. Vollkommene Organisation leistet ebensoviel wie ein Sklavenstaat. Während ein solcher aber seinen Herrn demoralisiert, übt die moderne Lebensvereinfachung, die alle vernünftigen Wünsche befriedigt, aber ein Sich-gehen-lassen auf Kosten anderer ausschließt, eine ähnlich stählende Wirkung aus wie die Askese.

Das ist in der Tat die Lösung des äußeren Lebensproblems, die einzige, die für uns Abendländer in Frage kommt. Ist unsere Lösung nicht die beste schlechthin?… Ich gedenke eines anderen Ausdrucks des gleichen Verhältnisses, unserer Vorstellung von Menschenwürde gegenüber der indisch-russischen der Belanglosigkeit des Individuums; zweifelsohne ist es ersprießlicher, vor sich und anderen gleiche Ehrfurcht zu empfinden, als beide gleich gering zu schätzen. Metaphysisch bedeuten beide Auffassungen gleiches; aber die unsere allein verleiht dem Sinn in der Erscheinung adäquaten Ausdruck. Nicht nur im Leben der Staaten, in jedem Leben erscheint das Recht zum Dasein darauf begründet, dass es gewahrt wird; nicht weil die Macht Recht schaffe sondern weil dieses im Entschluss zur Wahrung seinen psychologischen Körper hat. Wer sich nicht achtet, gibt sich damit Preis — gleichviel ob jemand da ist, dies auszunutzen. Daher kommt es, dass bei Völkern ohne Würdebewusstsein eine fortschreitende Entwürdigung vor sich geht, während solche, die sich selbst respektieren, ob ursprünglich noch so roh, automatisch innerlich weiter kommen; dass die gewalttätige westliche Menschheit, nicht die sanftere Russlands und Indiens, einen Zustand herbeigeführt hat, wo sich im Ernst von allgemein anerkannten Menschenrechten reden lässt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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