Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

IX. Heimgekehrt

Rayküll: Ereignislos fließt nun mein Leben hin

Ereignislos fließt nun mein Leben hin. Doch anstatt langsamer zu verlaufen, als damals, wo jede Stunde neue Eindrücke brachte, verläuft es unermeßlich viel geschwinder. In kinematographenartiger Hast löst eine Jahreszeit die andere ab; schien meine Reise mir Jahrzehnte zu währen, so möchte ich nun nach einem abgelaufenen Menschenalter wähnen, erst gestern sei ich heimgekehrt… Wie wunderbar passt sich die Seele den Umständen an! Im Großstadtgetriebe, im Strudel der Ereignisse, im Wirrsal der Eindrücke weitet ihr Zeitbewusstsein sich aus, um allem Raum zu gewähren; in der Einförmigkeit schrumpft es zusammen. Dem Einsiedler in der Wüste droht dergestalt nicht mehr Langeweile, als dem Weltmann.

Und während ich so still dahinlebe, verblassen unaufhaltsam die Erinnerungsbilder aus der weiten Welt. Schon kann ich mich nur noch mit Mühe auf Indien, China und Japan zurückbesinnen. Wieder kommt es ganz anders, als ich’s voraussah: ich erwartete, die vielen Lebensformen, die meinen Geist so mächtig anregten, würden als solche in mir weiterwirken. Statt dessen haben sie sich umgesetzt und was nun in mir lebt, ist etwas anderes, Einheitliches, für mich sehr Neues, dessen Herkunft aus der Vielheit des Erfahrenen ich nur reflektierend ableiten kann. Es ist unglaublich, wie ahnungslos der Mensch sich selbst gegenübersteht: das persönliche Ich schaut dem bloß zu, was auf der Bühne des Bewusstseins vor sich geht, hinter die Kulissen fehlt ihm der Zugang, es weiß nicht, wer auftreten wird, woher die Spieler kommen, was sie aufführen werden, und wenn es sich klarmacht, dass das Schauspiel trotzdem seine eigene Schöpfung ist, so wird ihm manchmal unheimlich zu Mut… Das Neue, für mich Unerhörte ist, dass ich gar kein Bedürfnis mehr nach Metamorphosen spüre. Nicht dass ich die Grenzen Hermann Keyserlings anders als früher beurteilte, dass ich mich nun innerlich eins fühlte mit ihnen: sie beschränken mich kaum mehr; ich weiß mich frei trotz und in ihnen. Ich überlese die Zeilen wieder, die ich vor meiner Abreise niederschrieb: nein, die Motive gelten heute nicht mehr. Und ich beginne zu begreifen, warum dem so ist.

Man verurteilt in anderen am schärfsten, was man in sich nicht liebt; der Heilige verdammt niemand, der Weise findet keinen ganz töricht. So rührte mein Verleugnen-wollen aller Gestaltung hauptsächlich daher, dass ich von keiner unabhängig war. Im höchsten Grad beeindruck- und beeinflussbar, wahrte ich meine Freiheit mittelbar durch stete Verwandlung. Aber besser ist wohl, unmittelbar aus ihr heraus zu leben. Freilich bedeutet Charakter (im üblichen Sinn) Beschränkung, kann kein Entwickelter Persönlichkeit als Ideal verehren; über Vorurteile, Grundsätze, Dogmen ist er hinaus. Allein er mag, charakterlos, doch positiv sein, nicht minder sicher und fest, als nur irgendein Starrer, bloß von höherer Erkenntnisbasis aus. Der Yogi sagt neti neti — das bin ich nicht — zu aller Natur, bis dass er eins ward mit Parabrahman. Nachher verleugnet er nichts mehr, bejaht er alles Positive in und außer sich, weil ihn jetzt keine Gestaltung mehr beschränkt, weil ihm nun jede ein folgsames Ausdrucksmittel ist. In diesem Verstand hat auch in meinem bewussten Leben ein Dimensionswechsel stattgefunden, so fern ich dem Ziel immer sei. Schon viel weniger als vormals bedarf ich der Reaktive, um mich leben zu spüren, immer unabhängiger wird mein Fortkommen von auslösenden Erfahrungen; was früher nur antwortete in mir, gebietet jetzt. Aber wenn ich nun zurückdenke an den langen durchmessenen Weg und die Frage stelle, ob ich unnötige Umwege gemacht, so muss ich diese mehr denn je verneinen. Es bleibt ewig wahr, was die indische Weisheit lehrt, dass die Seele alle Erfahrungen durchmachen muss, bis dass sie reif wird zur Seligkeit des Wissens, denn einen anderen Weg als diesen gibt es nicht; wer ohne scheinbare Umwege zum Ziel gelangt, erreicht es nur scheinbar. Warum? Weil dieses nicht in äußerlicher Einsicht besteht, sondern in innerer Verwandlung. Jeder Daseinsstufe entspricht eine besondere Wahrheit, die Lebensformel des Schmetterlings frommt nicht der Raupe; sei jener noch so sehr der letzteren Ziel — gerade um es zu erreichen, muss sie vorerst Raupe und Puppe sein. Ebenso steht es mit der Menschenseele. Diese entfaltet sich im Erkennen — jede höhere Erkenntnis aber setzt einen bestimmten neuen Zustand voraus. Bevor dieser erreicht ward, nützt kein abstraktes Wissen. Der ist kein Heiliger, der Furcht und Rache im Herzen, Jesu Weisung gemäß die linke Backe hinhält: die Natur muss dem Ideal gemäß geworden sein. Solches nun führt Erfahrung allein herbei. Jeder Teil der Seele muss persönlich eingesehen haben, was er eigentlich will, was er soll, worin seine Vollendung besteht, unerfahrene Wahrheiten erkennt er nicht an, und um genug zu erleben, muss er sich Vielem aussetzen. Deshalb bedarf eine Natur, je reicher sie ist, desto reicherer Erfahrung. Deshalb bedeutet dem Menschen der Umweg um die Welt in jedem Sinn den kürzest denkbaren Weg zu seinem Wesen.

Soviel war mir schon früher klar. Aber was mir erst jüngst offenbar ward und die eigentliche Ursache dessen ist, dass ich dem Proteustum entsagen kann und will, ist der Umstand, dass Wesenserkenntnis das Menschsein nicht aufhebt sondern erfüllt. Wohl wusste ich, dass jede Gestaltung fähig ist, den Atman ganz zum Ausdruck zu bringen, allein ich meinte, dies gelte beim bewusst Durchgeistigten in dem Sinn, dass die Natur zur durchsichtigen Schale werde ohne Eigenbetonung. Heute sehe ich, dass dem nicht also ist; dass jene, im Gegenteil, zum lebendigen Körper wird des Geists, und dieser sich eben darin ganz verwirklicht, dass er sich ganz hineinversetzt in ihre Normen. Ist Wandelbarkeit mehr als Gebundenheit, so beginnt vollkommene Freiheit doch erst jenseits jener: im scheinbar beengenden Rahmen drückt sich aus, was im beweglichen unausdrückbar war. Ja, ein Leben ist mehr als viele, weil im voll-willig übernommenen Einen allein vollkommenes Erleben möglich ist. Die christliche Mystik hat insofern tiefer als die indische geblickt, als sie zwischen dem, was Gott an sich ist, unterschied, und dem, als was Er erscheint, wo Er sich im Menschen offenbart. Sei Er an sich erhaben über allem, was Kreatur affiziert — als Mensch erscheine Er vollkommen menschlich; nichts Menschliches gäbe es, das nicht in Ihm seine Erfüllung und Heiligung fände. Deshalb sei Vergottung hienieden nur denkbar in korrelativer Vermenschlichung. So ist es. Das Gottsein, von dem ich früher soviel geträumt, ist kein Höchstes, es bezeichnet lediglich ein vergeistigtes Unmenschentum. Ich beging, indem ich ihm nachstrebte, eben den Fehler, den meine Theorie so oft gerügt: ich zog eine bestimmte Gestalt als solche anderen vor. Heute weiß ich die Wahrheit. Und indem ich entschlossen ja sage zu dem, was ich nun einmal bin, fühle ich mich nicht beengter sondern freier.

Im Fluge verstreicht die Zeit. Je unmittelbarer ich im Geiste lebe, desto mehr bewirkt sie, doch desto unwirklicher wird sie mir. Der Psalmist muss wahrgesprochen haben, als er von Jahveh kündete: tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, oder wie eine Nachtwache.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
IX. Heimgekehrt
© 1998- Schule des Rades
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