Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

IX. Heimgekehrt

Rayküll: Nescio vos

Draußen tobt der Weltkrieg. Immer mehr Völker fallen übereinander her, immer furchtbarer wird ihr Ringen. Und nicht genug, dass sie einander zu vernichten trachten — durch den Mund ihrer geistigen Führer verleumden und schmähen sie sich wechselseitig, unmäßig, wie die feindlichen Helden Homers. Aller Einklang, alles Verständnis ist aufgehoben, der Menschheit Einheit scheint nicht mehr zu bestehen.

Für mich besteht sie fort. Ich sehe in dieser Katastrophe nur eine Krisis, wie es gleichsinnige, wenn auch nicht gleich weitgreifende schon viele gab, die die Entwickelung nicht abschneidet, sondern beschleunigt fortsetzt. Wie aller Fortschritt durch Reaktionsperioden hindurchführt, während welcher sich die verdrängten niederen Triebe aufbäumen und zeitweilig siegen, so stand zu erwarten, dass die universellere Welt von morgen eingeleitet werden würde durch ein Vorspiel niedagewesenen Nationalitätenhasses, und die künftige Solidarität der Völker durch Ausrottungskämpfe; ganz so ward die Friedensära, die mit Augustus anhub, durch grausamste Bürgerkriege eingeführt. Während solcher Krisen bietet die Menschheit ein widerwärtiges Schauspiel. Vormals hätte ich mich voll Ekel von ihm abgekehrt. Heute kann ich’s nicht mehr: ich’ weiß mich innerlichst beteiligt. Nicht dass ich Partei wäre, — mir ist die ganze lebendige Schöpfung ein einiges Ganzes; keins der einseitigen Gefühle teile ich, das die Kämpfenden beseelt. Aber ich kann mich nicht mehr ablösen von der Gesamtheit, nicht mehr, wie ehedem, sagen: nescio vos. Denn ich weiß, dass ich eins bin mit meiner ganzen Zeit und insofern mitverantworte für ihr Schicksal.

Je tiefer bewusst ich Wurzel fasste in meiner Freiheit, desto deutlicher ward mir, dass nichts dieser mehr widerstreitet als Vereinzelungsstreben, ja, dass die Erkenntnis wesentlicher Freiheit ihr Korrelat, hat im Gefühl des Zusammenhangs mit der ganzen Erscheinungswelt. Allerdings bin ich, als metaphysisches Wesen, mein eigener Schöpfer. Aber empirisch betrachtet bin ich gar nichts durch mich selbst. Meinen Eltern verdanke ich meine Anlagen und meinen Ausgangsort im Leben, meinem Lande die frühesten Einflüsse; meiner Zeit die geistigen Inhalte, an denen ich teilhabe, die Impulse, die mich treiben; dem ganzen Erdkreis endlich die vielfältigen Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ich selbst, als bewusste Person, kann überhaupt nur dafür, dass ich bei vorhandener Arbeitsenergie unentwegt an mir gearbeitet habe — nicht einmal deren Besitz ist mein Verdienst, und ihr Erfolg schon gar nicht: meine Gedanken berufe nicht ich, sie kommen mir. So bin ich unabtrennbar vom Universum. Nehme ich mich selbst hin, so bejahe ich auch jenes; ist es mir Aufgabe, mich selbst zu vollenden, so umschließt diese die weitere, soviel ich nur irgend vermag mitzuschaffen an der Vervollkommnung der Welt.

Was sie heute ist, kann ich ebensowenig verleugnen wie meinen persönlichen Zustand. Dieser ist das Produkt alles dessen, was je war; wäre der Weltprozess anders verlaufen, auch ich stände anders da. Umgekehrt aber wäre notwendig auch die Welt vollkommener, wenn ich vollkommener wäre, so dass ihr künftiger Charakter allseitig bedingt wird vom Wollen und Vollbringen ihrer heutigen Elemente. Und zwar aller ohne Ausnahme: jedes Einzelnen flüchtige Gebärde wirkt durch Äonen nach. So kann und darf sich keiner vom Ganzen ablösen.

Diese Wahrheit, nur wenigen bewusst in Friedenszeiten, beseelt der meisten Impulse im Verteidigungskrieg. Innerhalb aller heute kämpfenden Nationen spürt der Einzelne den Drang, sein Leben für ein Größeres hinzugeben, innerhalb aller fühlt er, dass er mithalten soll, sich nicht abtrennen darf, dass er das Fatum seines Volkes mittragen muss, sei es Verbrechen oder Glück oder Tod. Mein Bewusstsein lebt jenseits der Sphäre nationaler Bindungen, so kann ich nicht Partei sein in diesem Streit. Aber das Geschehen berührt mich deshalb nicht weniger tief: wie es Geschöpfe gibt, die ihrer Natur nach bestimmte Sonderstrebungen vertreten müssen, so gibt es andere, die zur Verkörperung des Allgemeinen berufen sind. Und dieses Allgemeine ist keine Abstraktion: es ist durchaus lebendig, es ist konkreter als alles Besondere insofern, als dieses ihm nur zum vorübergehenden Mittel dient. Alle tiefsten, wesentlichen Lebensmächte sind überindividuell und übernational; sie geben dem Sondergeschehen Sinn und Richtung. Des Metaphysikers Bewusstsein wurzelt unmittelbar in ihnen. Seine Teilnahme am Weltprozess besteht darin, dass er diesen Mächten Ausdruck verleiht.

Und diese Teilnahme ist nicht minder wichtig als die des Kriegers. Was wäre aus Europa geworden, wenn die hadernden Einzelstimmen nicht wieder und wieder von Einer übertönt worden wären, die keinerlei Parteilichkeit gelten ließ, nur Liebe kannte? — Aus dieser Stimme aber sprach der Menschheit tiefster Wille. Je selbstbewusster sie wird, desto mehr wird dieser dominieren, desto mehr von innen her alles Sonderstreben beseelen. Ich ahne eine Zeit, wo Menschenkraft und -mut überhaupt nicht mehr vorläufig-beschränkten, sondern nur noch endgültig-allgemeinen Zielen nachstreben werden. Denn nicht dadurch wird die ideale Zukunft gekennzeichnet sein, dass farblose Duldsamkeit die Stelle des Heldentums einnimmt, sondern dass dieses, anstatt dem Irrtum, der Wahrheit dient; dass die irdischen Mächte durchaus vom erkennenden Geiste gelenkt werden. Nie werden sie als solche zu wirken aufhören, es ist ein und derselbe Mut, den der Bandit und der Bekenner beweist, und Schwäche bleibt schwach, worauf immer sie beruhe. Solange es heißen kann: Heroismus oder Weitherzigkeit, wird die Menschheit nicht reif sein zur Universalität. Noch ist sie es nicht. Auf dass sie es baldigst werde, dürfen die wenigen, in denen ein tieferes Bewusstsein schon heute lebt, nie müde werden, ihr Wissen zu verkünden.

Ich gedenke des Bodhisattva, der das Gelübde tat nicht ins Nirvâna einzugehen, solang noch eine Seele unerlöst in erdgeborenen Banden schmachtete, und vergleiche sein Bild mit dem des Weisen, der, gleichgültig zur Welt, nur nach Gotteserkenntnis strebt: dieser ist noch nicht ganz hinaus über Name und Form, denn nach Abstreifung aller Bande bleibt ihm das des Erkenntnistriebs — er ist es, welcher Gott schauen will. Jener, auch er vormals ein Weiser, hat diese letzte Fessel abgetan. Sein Erkenntnisstreben, das ursprünglich die Person befriedigen sollte, hat deren Gefäß zuletzt zersprengt. Nun lebt er überhaupt nicht mehr in sich, nun bietet er dem göttlichen Licht ein vollkommen durchsichtiges Mittel. Weil jenes völlig ungebrochen durch ihn leuchtet, will er nur noch geben, strahlt er nur noch aus, kann er nicht anders als spendend sich zur Schöpfung verhalten, gleichwie die Sonne kein Atom unerwärmt lassen kann.

Der Bodhisattva sagt ja zur noch so argen Welt, denn er weiß sich zusammenhängend mit ihr. Entselbstet, fühlt er seinen Grund in Gott, seine Oberfläche jedoch mit allem was ist verwachsen. So muss er alle Wesen wie sich selbst lieben, so kann er nicht ruhen, bis dass sie alle in allem die Gottheit spiegeln. Der Bodhisattva, nicht der Weise verkörpert des Menschenaufstiegs Ziel.

Ende

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
IX. Heimgekehrt
© 1998- Schule des Rades
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