Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Dembull

Diese erste Etappe meiner Wagenreise durch das Land werde ich sobald nicht vergessen. Eine langwierige Fahrt durch schweigende Urwälder; dann einen steilen kahlen Berg hinan, in dessen Gipfel die Felsentempel eingehauen sind. Ringsherum Wald, so weit das Auge reicht; seine äußersten Vorposten reichen mit ihren Wipfeln noch bis zum Vorhof der Tempel von Dembull und die graue Kuppe wirkt gar trotzig inmitten des Grüns. Das Beeindruckendste ist aber das Innere der Heiligtümer: im toten Stein hat sich, vom Menschengeiste hinverpflanzt, eine wundersame Flora angesiedelt. Hunderte von bunten Buddhas blühen dort friedvoll nebeneinander; unter ihnen aber sprosst hie und da, wie in das bestgepflegte Beet mitunter Unkraut hineingelangt, ein üppiger Hindugott auf. So kann sich die Natur nicht verleugnen. Nichts scheint dem Geiste des Überwinders weniger entsprechend, als solche Flora von Heiligenbildern, vor denen der Gläubige sich betend neigt; Gautama selbst hätte sie wohl vernichten lassen. Und doch haben die Singhalesen Recht, die zwischen diesem lieblichen Garten und Buddhas ernster Predigt keinen Widerstreit erkennen können. Der Blumenflor bedeutet nichts anderes, als die Lehre von der Nichtigkeit des Daseins; es ist diese Lehre selbst, in der Sprache des Tropengürtels ausgedrückt.

Ein liegender Buddha, roh aus dem Felsen herausgemeißelt, wirkt als Wesen für sich. Einsam ruht er unter seinen sitzenden Doppelgängern, wirkt so einsam unter ihnen wie die kahle Bergkuppe inmitten des Grüns. Und doch scheint er nicht vereinzelt zu sein und nicht von anderer Substanz als sie. Nur scheinbar ist er ein Wesen für sich. So hat wohl Gautama selbst seine Persönlichkeit aufgefasst: so einzigartig, einsam, übermächtig sie seinen Jüngern vorkommen mochte — er wusste, dass er nur an der Oberfläche ein Abgesondertes war. Längst lebte sein Bewusstsein in jener Tiefe, wo alle Vielheit im Einen sowohl erfüllt als aufgehoben ist Lange habe ich vor diesem Bilde geträumt. Wie ich zum Tore hinausblickte, über die Wipfel der Bäume hin, da gewahrte ich Scharen von Affen, die in lautlosem Seiltanz ihrer Abendäsung nachkletterten.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME