Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Udaipur

Zu Beginn eines Schauspiels an Fürstenhöfen des mittelalterlichen Indien pflegte der Direktor auf die kahlen Bretter hinauszutreten und dem Zuschauerkreise zu erzählen, was er im Geiste um sich sah; seine Worte riefen in deren Bewusstsein die entsprechenden Bilder wach und das waren dann die Dekorationen und Kulissen. Beim Publikum wurde soviel Einbildungskraft vorausgesetzt, dass es ein Imaginiertes als dauernd-gegenwärtigen Rahmen eines Wirklichen im Auge zu behalten imstande wäre. — Durch solche Evokation scheint mir Udaipur entstanden, in selben Sinne wirklich zu sein. Udaipur wirkt so unwahrscheinlich in seiner Schönheit, dass ich, wie’s beim Träumen geht, mitten drinnen stehe, betrachte, genieße — und an mein Erleben zugleich nicht glauben mag.

In götterwürdiger Pracht und Größe ragt das Königsschloss im Hintergrunde auf. In der terassenförmig ansteigenden Stadt drängt sich das Volk; stolze Ritter sprengen einher, weiblich-schöne Epheben lehnen scherzend vor den Waffenschmieden und wieder und wieder zerteilt die dunkele Masse eines Elefanten das schimmernde Gewoge der Menschen. In den Gärten, wo seltene Blumen sprießen und Marmorfontänen um die heißeste Mittagszeit weithin erfrischende Kühle verbreiten, flattern Märchenvögel umher, schön wie Juwelen. Den See, in dem Udaipur sich spiegelt, bevölkern Ibisse, Löffler und Marabous, dem Menschen freund; am Ufer treten Hindinnen und Gazellen zutraulich zum Lustwandelnden hinaus. Die Inseln sind von köstlichen Kiosken geschmückt, die zu heimlichen Freuden laden. Goldene Gondeln, von denen Gesang und Zymbelklang herübertönt, durchgleiten die Fluten. Und wenn es Abend wird, wenn die Sonne auf dem Marmor der Paläste abgeklungen ist und der See sich vom Purpur ins Violette und von diesem ins Unsichtbare verfärbt hat, läuten silberne Glöcklein die Märchenstadt zur Ruh.

Hier könnte ich nur rasten, nur genießen, nur lieben und glücklich sein; hier wäre es lächerlich, anders leben zu wollen. So war wohl die Atmosphäre einer indischen Cour d’amour. Bisher hatte es mich Mühe gekostet, mich in das Liebesleben indischer Höfe hineinzuversetzen, wie es mir aus der Dichtung des Mittelalters entgegentrat; dieses Lieben schien mir so unwirklich in seinem passiven Sehnen, seinem Überschwang ohne Kraft, seiner Unrast inmitten der Sicherheit. Dieses Unwirkliche ist eben die Wirklichkeit jener unwahrscheinlichen Welt gewesen; hier hat eine übersteigerte Kultur sich über die Natur hinweggesetzt. Das Lieben als eigentliche Kunst hat der Westen niemals gekannt. Was man dort als Liebeskunst bezeichnet, ist nicht Kunst sondern Diplomatie. Dieser bedurfte es an den indischen Liebeshöfen nicht, denn der Zweck erschien von vornherein erreicht; von Hause aus besaß man, was man begehrte, und zur Sehnsucht nach Unbekanntem fehlten Ansporn und Gelegenheit. Solche Befriedigtheit stumpft in der Regel ab. In diesen Kreisen jedoch von raffiniertester Sinnenkultur, wo die Schönheit als Selbstzweck herrschte, hat sie die Liebe zu einer echten Kunst transfiguriert, eines Sinns mit der Musik, der Poesie. Bei diesem Lieben gehörte alle Dramatik dem Reiche der Einbildung an. Die Phantasie hatte alle Fabel und Handlung aus sich heraus zu gebären, die Leiden zugleich und die Hindernisse, die Bangigkeit und die Hoffnung, denn ihnen fehlte jeder wirkliche Hintergrund; hier wurden Gefühle geweckt und fortgesponnen, wie der Musiker zur Laute improvisiert. Und dieses Wunder war möglich, wurde wirklich, weil die Menschen jener wunderbaren Zeit ganz wunderbar fein und tief gebildet waren.

Diese Kultur gehört längst vergangenen Zeiten an. Doch wie ich durch die schimmernden Gemächer schritt, die Kiosken und schwebenden Gärten, die einstmals ihr Schauplatz waren, da wurde mir ihr Geist gegenwärtig und bittere Wehmut erfüllte bald mein Herz. Wie sehr geht der modernen Geselligkeit aller künstlerische Eigenwert ab! Nicht dass es ihr an erotischem Unter- und Hintergrund fehlte — das Erotische muss der neutrale Canevas, das tragende Gewebe sein, auf dem Phantasie und Geschmack gefällige Muster wirken; und diese Muster sind heute, wo vorhanden, fadenscheinig und schlecht. In nordischen Landen waren sie niemals gut. Dort geschieht es zu selten, dass ein Mann von Frauen erzogen, gebildet wird, ohne Zucht entwickelt sich sein Erotisches nicht, und da die Frau ihrerseits nur ausnahmsweise höheren Anforderungen genügt, als vom Manne unmittelbar an sie gestellt werden, so findet kein Fortschritt statt. Der germanische Mann kennt in Sachen der Liebe meist nur zweierlei: das Laster und die Ehe; beide aber sind gleich schlechte erotische Bildungsmittel; beide begünstigen das Sich-gehen-lassen; beide entspannen. Die erotische Gespanntheit, die niemals nachlassen darf, wenn der Mann als Sinnenwesen auf der Höhe bleiben soll, wird nur durch solchen Umgang gefördert und gesteigert, der ihm die Auslösung als immer möglich in der Idee und in der Praxis als dauernd fraglich vorhält, und diesen bieten weder Gattinnen noch Dirnen. Im Orient noch heute und im Westen zur Zeit des klassischen Altertums war der entsprechende Frauentypus nur unter Hetären zu finden. Von der Renaissance an hat er sich mehr und mehr von einer bestimmten Kaste losgelöst und seit dem 18. Jahrhundert fällt er zusammen mit dem Idealtypus der Dame der großen Welt. Die antike Hetäre und die moderne Grande-Dame sind in der Tat eines Geistes, eines Wesens; nur steht diese, als die universellere, höher. Was verdankt nicht der Mann dem Verkehr mit solchen Frauen! Und wie sehr merkt man es ihm an, wenn ihre feinen Hände ihn geformt haben! Die größere Anmut (sowohl physisch als geistig und emotionell), die der kultivierte Romane dem Germanen gegenüber besitzt, rührt eben daher, dass jener im Gegensatz zu diesem, solcher Bildung meist teilhaftig geworden ist. Es ist Verblendung, beinahe eine Sünde wider den Heiligen Geist, das Erotische aus dem Leben zu verbannen, wie dies der Puritanismus aller Länder und Zeiten tut: es bezeichnet recht eigentlich den Angelpunkt der Menschennatur. Vom Erotischen aus kann jede Saite seines Wesens zum Schwingen gebracht werden, und die tiefsten sind meistens von ihm aus angeklungen. Aber freilich muss die Frau ihr Metier verstehen. -Sie muss es verstehen, das Erotische als Canevas zu behandeln und die Fäden hin- und herschießen zu lassen, bis dass ein köstliches Muster entstanden ist; sie muss es verstehen, den Mann zum Sticken zu zwingen, zur Erfindung immer neuer Arabesken, immer feinerer Nuancen und Tönungen. Und ist sie vollendet gebildet, so gelingt es ihr gar, den Diplomaten zum Künstler zu machen, das brutale Begehren in Sehnsucht nach Schönheit umzuwandeln. Das haben die großen Frauen der Glanzperioden romanischer Kultur gekonnt, daher das Dasein eben dieser Kultur. Heute hingegen ist der Sinn für Stickerei selbst in Frankreich fast dahingeschwunden. Das Begehren, das sich doch von selbst versteht, wird wieder und wieder betont, unterstrichen, übertrieben; anstatt dass die Männer im Frauenkreise geistreich würden, werden sie roh. Sie werden es notwendig, weil eben die Frauen selber an Stickerei immer weniger Gefallen finden, und den nackten Canevas dem Teppich vorziehen. — Wie anders war es im mittelalterlichen Indien! Hier fehlte aller Reiz des Ungewissen; man hatte die Frauen, um die man warb. Hier waren die äußeren Verhältnisse an sich der Regsamkeit nicht günstiger als in der Ehe. Aber wie es hie und da auch Ehemänner gibt, deren Einbildungskraft die Trägheit überwindet, so verstanden es die wunderbaren Menschen dieser Zeit, ohne äußere Hilfsmittel, ganz aus sich selbst heraus, eben das und mehr an erotischer Kultur zu erschaffen, was zu den besten Zeiten Italiens und Frankreichs je entstand.

Wird sich jemand verletzt fühlen dadurch, dass ich die Hetäre und die Grande-Dame einem identischen Typus zuzähle? — Die Tatsachen kann ich nicht ändern. Es ist nun einmal so, dass nur die Frau von polygamer Anlage, von weitem Gefühlshorizont, von vielfältigen Sympathien und von nicht allzu eindeutigem Charakter zur Stellung der Herrscherin, der Muse und Sybille berufen ist. Die Tugenden der Hausmutter schließen Wirken ins Weite und Große aus; das Weib, das letzteres anstrebt, beweist eben damit, dass es keine ist. Man sollte endlich zur Erkenntnis gelangen, dass das Moralische keinen möglichen Generalnenner für die idealen Bestrebungen des Menschen abgibt; dass manche höchste, unersetzliche Werte nur im Gegensatz zu den Richtlinien der Moral der Verwirklichung fähig sind. Eine der wenigen Damen der großen Welt, die sich heute dem Typus einer Aspasia nähern, fragte mich einst, ob ich sie für untreu hielte? Gewiss nicht, erwiderte ich ihr, denn in ihrem Falle stelle sich die Frage der Treue nicht. Um vielen das Außerordentliche zu bedeuten, was sie allein in ihrem Kreise bedeuten konnte, musste sie den Einzelnen in gewissem Sinne preisgeben. Und sie hätte sich schwer versündigt, wenn sie ihr höchstes Können moralischen Bedenken geopfert hätte. Man sollte endlich erkennen, dass überhaupt kein Generalnenner für die idealen Bestrebungen des Menschen denkbar ist, es sei denn, man wähle einen dermaßen abstrakten Begriff, dass er jeden nur möglichen Inhalt einschließt. So sind alle auf das Streben nach Vollendung zurückzuführen, denn das ist in der Tat ihrer aller Sinn. Aber wer sieht nicht, dass es unzählige Formen möglicher Vollendung gibt, so dass die scheinbare Vereinheitlichung nur eine Neufassung des Problems bedeutet? Tatsächlich kann eine Art Vollendung nur auf Kosten von anderen gedeihen. Die Wunderwerke der griechischen Kunst wären unerschaffen geblieben ohne Nichtachtung und Vergewaltigung des kleinen Manns; höchste Kultur ist nur in aristokratischen Gemeinwesen möglich, die als solche ausschließlich sind; ästhetische Vollendung liegt in anderer Dimension als die moralische, und nicht selten im rechten Winkel zu ihr; das Ideal der Demokratie ist kulturfeindlich, das der allumfassenden Liebe schließt die männlichen Tugenden aus usw. usw.

Nun kann man die Behauptung aufstellen — und das ist häufig geschehen — dass neben dem des moralisch Guten alle anderen Ideale unwesentlich seien: aber sogar unter dieser vereinfachenden Voraussetzung ist ein allumfassendes konkretes Ideal nicht auszudenken; ein Zustand, meine ich. der alles moralisch Gute im Menschen zur Vollendung brächte. Im Fall der oberflächlichsten Verwirklichung des moralischen Ideals, in der Form allseitiger praktischer Menschenliebe, tritt dies darin zutage, dass der Einzelne ethisch verkümmert: gerade weil er sich andauernd für andere betätigt, gelangt er zu keiner Vertiefung seiner selbst; diese Verkörperung hat denn auch keinen tiefen Menschen je befriedigt. Allein die höheren sind nicht minder begrenzte Gestaltungen, konnten gleichfalls nur auf Kosten anderer Möglichkeiten zum Guten entstehen. Der Mönch muss die tief-ethischen Familientriebe in sich ertöten, der Freundschaft entsagen, irdischer Vollendung gegenüber gleichgültig werden; bei der innerweltlichen Askese wiederum, deren Idee der Protestantismus aus der Erkenntnis der Beschränkungen des Mönchsideals heraus geboren hat, kommt es nie zu dem innerlichen Freiwerden, in dem das erhabenste Ziel religiösen Fortschreitens besteht. Es ist eben nicht möglich, eine bestimmte Gestalt zu erdenken, die alles Gute im Menschen zu vollendeter Ausprägung brächte, noch weniger eine solche zu konstruieren, die alles Ideale überhaupt in sich zusammenfasste. Die Ideale leben eins auf Kosten des anderen, nicht anders wie dies die Organismen tun. Wohl gibt es höhere und niedere Ideale, gleichwie es höhere und niedere Tiere gibt, doch das geheimnisvolle Band, das sie verknüpft, verbietet es, die einen um der anderen willen auszurotten: in dem man das scheinbar Minderwertige bekämpft, untergräbt man dem Wertvolleren den Boden. Und dann verdient das Minderwertige diese Bezeichnung nie absolut: es schließt allemal positive Möglichkeiten ein, die das Höhere als solches nicht birgt. So steht es mit dem Erotischen. Wohl handelt es sich hier um keinen höheren Trieb und die höchsten Gestaltungen, deren er fähig ist, halten an Menschheitswert den Vergleich mit anderen nicht aus. Immerhin sind diese Gestaltungen nicht bloß als solche schön, so dass es eine Verödung der Welt bedingte, wenn sie verschwänden: sie stehen in so intimem Wechselverhältnis zu anderen, höheren, dass das Dasein dieser an jene schlechthin gekettet scheint; nur auf dem Untergrunde erotischer Kultur kann künstlerische wachsen und gedeihen. Die Puritanerseele wirkt dürftig im Vergleich zur katholischen; Tugendbolde sind allemal Krüppel, unsinnliche Naturen der religiösen Vertiefung unfähig. Ich für meine Person bescheide mich bei der Feststellung des Tatbestandes und verzichte darauf, die Widersprüche im Geiste auflösen zu wollen, die in Wirklichkeit, was immer man sage, bestehen; ich halte es für ungebildet, aus Vernunfterwägungen von zweifelhafter Stichhaltigkeit heraus den eigentümlichen Charakter der Welt hinwegzudeuten. Und finde es am Ersprießlichsten, das Positive der Erscheinungen allein im Auge zu behalten. In irgendeinem Sinne führt jede Tendenz zum Guten; diesen Sinn im einzelnen zu erfassen, ist das Grundproblem der Lebenskunst; ihn im Zusammenhang zu übersehen, das Schlussziel menschlicher Weisheit.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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