Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Tschitor

Als strategischer Schlüssel zu Mewar, als wichtigste Feste Rajasthans, hat Tschitor, bis dass die Engländer kamen, nur ausnahmsweise ein unblutiges Jahr erlebt. Mit Tschitor sind die stolzesten Erinnerungen der stolzen Rajputs verknüpft; und das will sagen: vielleicht keine Stätte der Welt ist der Schauplatz eines gleichen Heldenmuts, eines gleichen Rittersinns, einer gleich adeligen Todesbereitschaft gewesen. Hier fiel Bagh Singh, das Haupt der Deolia Pratapgarh, im Kampf gegen Bahadur Schah von Guzerat; hier war es, dass Padmani, die wunderschöne Königin, die zu gewinnen Ala-Uddin-Khilji die Festung bestürmte, da alle Aussicht auf Sieg geschwunden war, mit sämtlichen Rajputfrauen den Tod in den Flammen suchte und fand, während Bhim Singh mit seinem ganzen Stamm im Kampf um die Mauern dahinsank; hier focht Jaimall von Bednors Braut Seite an Seite mit ihrem Gemahl gegen des großen Akbar Legionen. — Wie seltsam, im Inderlande eine Atmosphäre einzuatmen, deren Wesen geschichtlich ist! Der Hindu, den ich bis hierher gekannt, weiß nichts von geschichtlichen Ereignissen; ihm fließt das Leben als Mythe hin. Und sein Seelenwanderungsglaube, der dem Geschehen das Pathos der Einmaligkeit raubt, nimmt der Historie damit allen Sinn. Auch ich kann sie als solche noch nicht ernst nehmen. Und wenn Tschitor mir nun doch unmittelbar auf Sinne und Seele wirkt, so geschieht dies auf einem Umwege, der das Historische gewissermaßen unhistorisch macht. Den Göttern; deren fließende Vorstellungen den Hintergrund des Weltgeschehens bilden, erscheint es nicht sonderlich wichtig, ob sie sich zu wirklichen Ereignissen verdichten. Nur dort, wo das Ideelle im Realen seine höchste Vollendung erfährt, werden sie aufmerksam auf unsere Welt. So haben sie einst an dem großen Kriege zwischen Kuru- und Pandusöhnen aufrichtigen Anteil genommen. Im gleichen Sinne fesselt mich Tschitor: mehr als hier wirklich ward, ist im Ideenreich nie vorgebildet gewesen.

Die großen Zeiten des indischen Rittertums sollen vergangen sein. Das mag sein: aber sein Geist ist noch lebendig. Wenn ich die Rajputs betrachte, so sage ich mir: es biete sich die Gelegenheit, und ihr Heldensinn bewährt sich aufs neue. Die sind heute noch gerade so gesinnt, wie unsere Vorfahren es im 11. Jahrhundert waren, als das Rolandslied aus aller Munde klang. Es sind Ritter durch und durch; Paladine ohne Falsch, Furcht und Tadel, so edel und hochgezüchtet, wie solches sonst nur noch Pferde sind. Die Geschichte registriert nicht alles, was lebt und wirklich ist, sie weiß nur von dem Teil, welcher unmittelbar ins materielle Geschehen eingreift; so gelangt sie zu der Fiktion einer Ablösung der sich folgenden Epochen. In Wahrheit bestehen sie alle in- und miteinander fort. Wie kein Zustand des Einzelnen buchstäblich vergeht, sondern nur abtritt von der Bühne des Wirkens, so dauern die historischen Zustände noch fort, die in die Weltbewegung längst nicht mehr eingreifen. Ich kenne Kreise, in denen das 18. Jahrhundert noch fortlebt, Provinzen, in welchen der Geist des Reformationszeitalters noch wirkt. Sicher gibt es noch Chaldäer, Sumerier, Phöniker; nur sind sie nicht leicht zu entdecken… Gespenster erfüllen diese Welt. Und dort gerade gehen sie am lautesten um, wo ihr Dasein am entschiedensten geleugnet wird. Woher die Vieldeutigkeit des modernen geschichtlich-denkenden Menschen, seine Unbefriedigtheit, sein Verfeindetsein mit seiner Welt? Er will anders sein, als er ist. Er will sich gewaltsam einfügen in eine Konstruktion. In seinem Aberglauben an seine Geschichtlichkeit will er das in sich totschweigen, was zu der Zeit nicht stimmt. Was Wunder, dass die verdrängten Geister Lärm schlagen? So manchen vielversprechenden Genius haben sie aus diesem Leben schon hinausgeschrieen. — Die Rajputs jedoch, deren Zeiten längst vorüber sind, diese homerischen Helden im Jahrhundert der Industrie, leben herrlich und unbefangen fort.

Es war Nacht geworden, als mich der Elefant, lautlos auftretend, von der Felsenfeste talwärts trug. Ich lag auf der gepolsterten Plattform, die Erde unsichtbar unter mir, das Auge in den Sternen verloren. Jedes Bewusstsein einer bestimmten Daseinsform war mir abhanden gekommen. Wer ich war, wo ich war, was ich tat — ich wusste es nicht. Ich wusste nicht mehr, dass ich auf einem Elefanten lag: seitdem ich mich an den Rhythmus seines Ganges gewöhnt hatte, existierte er für mich nicht mehr. Ich fuhr nicht, ich ritt nicht, ich flog nicht; ganz sicher ging ich nicht; von der Erde war nichts zu erkennen. Nur Himmelskörper umgaben mich. Und mit der selbstverständlichen Sicherheit des Träumenden schwebte ich durch den weiten Weltraum hin. Im Grunde war mir, als befände ich mich überhaupt nicht mehr im Raum. Es war jener seltsame Zustand der Entäußerung, den ich sonst nur an der Schwelle des Todes gekannt habe, wo intensives Daseinsgefühl mit der Verflüchtigung alles Wirklichen zupaar geht. Man kann nicht fest behaupten, dass man noch existiert; man vergeht mit der Welt ringsum. Und doch ist man daj mehr denn je sonst, seiner Wesenhaftigkeit sicher.

Wie ich absteigen musste und beim grellen Fackelschein wie zum ersten Mal des Leviathans ansichtig ward, dem ich mich anvertraut hatte, da durchschauerte es mich. Es mag doch sein, dass die Erde auf einer Schildkröte ruht. Denn mehr als deren Bewohner spüren könnten, dass sie von Lebendigem getragen wird, habe ich vom Ungeheuer unter mir nicht wahrgenommen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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