Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Dschaipu

Wie wenig mein Unterbewusstes doch von europäischen Vorurteilen noch frei ist! Es schockiert mich — anders kann ich es nicht bezeichnen — dass es in Indien Menschen wie die Rajputs gibt! Ich glaube eben doch an den Inder, und diesen Typus habe ich vom Brahmanen abstrahiert, dem femininen, geschmeidigen Intellektuellen; so dass es mich wie ein Widerspruch berührt, dass ich mich nun unter Indern befinde, die den fränkischen Baronen des Mittelalters ähnlicher sehen, als der Masse ihrer Volksgenossen. Dabei sollte ich es längst schon verlernt haben, die europäischen Allgemeinbegriffe Nation, Rasse, Volk usw., auf Indien anzuwenden. Wie ich zu Rameshvaram den ersten Überblick über die Stämme Hindustans gewann — und dort waren es doch Bekenner eines Glaubens! — da musste ich an die Ilias denken; wie sich die Myrmidonen für Homer von Spartanern und Phokern nicht minder unterschieden, als von den Troern; wie es für ihn, trotz bestehender Sprachgemeinschaft, kaum so etwas wie Griechen gab. Nur dass die verschiedenen Stämme Hindustans nicht eine, sondern hundert Sprachen reden. Was ich seither nun erfahren habe, hätte mir den Glauben an den Inder vollends nehmen sollen; eine kleine Tagereise hat mich nicht selten gleich verschiedene Aspekte der Menschheit kennen gelehrt, als wenn ich von Island auf einmal nach Sizilien hinübergesetzt wäre. Welcher Allgemeinbegriff ist auf die Völker Indiens überhaupt anwendbar? Ausschließlich derjenige der Kaste, wie ihn der indische Volksmund anwendet. Der begreift in sich nichts Eindeutig-Bestimmtes: Kaste wird jede Gemeinschaft genannt, die in irgendeinem Sinne ausschließlich erscheint. Bald wurzelt sie im Blute — die Abkömmlinge der Mongolen sind anderer Kaste als die Hindus; bald im Glauben, wie im Falle der Sikhs; hier geht ihr Begriff auf geographische Abgeschlossenheit zurück, dort wieder auf eine gleichartige Beschäftigung. Im wissenschaftlichen Sinne genau sind die Inder niemals gewesen. Wieder und wieder ist das Pathos der Blutsgemeinschaft durch Adoptionsmöglichkeiten gemildert worden, wieder und wieder hat ein religiöser Verband Andersgläubige in sich aufgesogen. Die Hindus haben immer nur als Künstler unterschieden, d. h. vom Standpunkte einer gegebenen Gegenwart aus. Von dort aus aber haben sie besser beobachtet und aus ihren Beobachtungen weitgehendere Konsequenzen gezogen, als irgendein Volk… Jeder Gruppe wird ihr Typus unbedingt zugestanden, mit bewunderungswürdiger Weitherzigkeit. Es erstehe im Schöße eines Glaubens eine Sekte, eine Häresie: sobald sie so weit fest begründet erscheint, dass sie einen neuen Typus erschaffen hat, wird sie als neue Kaste gelten gelassen. So findet der Hindu, welchem Töten ein Sakrileg und Fleischessen ein Greuel ist, kein Ärgernis darin, dass er Glaubensgenossen besitzt, die, wie die Rajputs, Raubtiere sind. Er beurteilt die verschiedenen Kasten nicht anders als die verschiedenen Tierspecies, welche alle von Gott erschaffen sind und alle ein Recht zum Leben haben; weiter denkt er in der Regel nicht nach. Tut er es aber, dann lehrt ihn sein Glaube sofort die Vorzüglichkeit der bestehenden Ordnung einsehen: die Seele muss durch vielfältige Verkörperungen hindurchgehen, um alle nur denkbaren Erfahrungen durchzumachen. Wohl gibt es höhere und niedere Daseinsformen; der Brahmane steht über dem Kshattrya. Doch ist dessen Typus nicht minder notwendig und gottgewollt, da keine Seele zum Glück des Wissenden reif erscheint, die nicht vorher einem Kämpfer innegewohnt hat.

Die Schwächen dieser Anschauungsart liegen zutage: ihr ist es zu danken, dass Indien eine Einheit nicht allein nie gebildet hat, sondern unmöglich hätte bilden können. Es gibt keine indische Nation, keinen indischen Glauben, keinen indischen Geist. Andrerseits: wie wunderbar reich und gegliedert ist die indische Menschheit! Wie fabelhaft ausgeprägt ist jeder Typus! Überall, wo, wie im Orient, der Einzelne nicht ausgesprochen einzig ist, wird er am meisten er selbst, indem er seinen Typus vollendet. Nun haben die Inder so viele Typen unterschieden, als sich vernünftigerweise unterscheiden lassen, und sind bereit, jeden neuerstehenden gelten zu lassen: also besteht für den Einzelnen kaum Gefahr, dass die Kaste seine Eigenart unterdrückte. Wirklich: mehr und mehr gewinne ich den Eindruck, dass das Kastensystem dem Einzelnen mehr freien Spielraum lässt, als es das unserige tut, das jede Typik verleugnet. Wenn jeder von uns sich seines tiefsten Seins bewusst wäre und dieses unbefangen zum Ausdruck brächte, dann freilich dürfte unser System als das denkbar vollkommenste gelten; allein der Europäer, der seines Typus nicht eingedenk ist, richtet sich desto sklavischer nach abstrakten Normen, deren Grenzen mehr drücken, als jedes Kastenvorurteil. Der Europäer will schlankweg Mensch sein, vergessend, dass es ein solches Wesen nicht gibt, weshalb sein wachsendes Einheitsbewusstsein nicht Vertiefung, sondern Uniformierung der Oberfläche bedingt. Nirgends nun dürfte Einheitsbewusstsein tiefer wurzeln und allgemeiner verbreitet sein, als unter Indern; aber dort setzt es gleichzeitig die Ausschließlichkeit des Phänomens. So ist die indische Menschheit, die an die Persönlichkeit nicht glaubt, weit vielgestaltiger und reicher gegliedert, als die individualistisch denkende des modernen Westens. Es ist ein hoher Genuss, durch die rosenrote Stadt zu lustwandeln. Wie prachtvoll sehen diese Rajputs aus! Das Leben in Dschaipur verläuft nicht anders, als an den Höfen der Fürsten aus der Heldenzeit, wie es Valmiki im Ramāyāna geschildert hat. Übermorgen wird Englands Königin zum Besuch erwartet. Durch alle Tore ziehen Ritter ein, waffenklirrend, mit ihren Reisigen und Mannen. Der Bruder des Maharaja, eine gebietende Gestalt, reitet in purpurnem Kaftan auf goldgeschmücktem Elefanten durch die Straßen, um die Vorbereitungen zum Empfang zu überwachen. Eben jetzt ziehen die Naga-(Schlangen-)Truppen an mir vorbei: junge Edelleute in grünen enganliegenden Rüstungen, deren Vordermänner während des Marsches einen wilden Schwertertanz aufführen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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