Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Delhi: Okzident

Diese Welt ist mir in noch viel weiterem Sinne vertraut, als ich anfangs dachte: die islamische Kultur als solche ist mir nicht fremd; sie ist ein Ausdruck eben des Geistes, der die meine bedingt. Wer nur Europa kennt, mag in jener immerhin ein Fremdes, Orientalisches sehen; der Taraskonese sieht im Bewohner Beaucaires eine besondere Spezies, mit der er nichts gemein hätte. Gegen den Hintergrund Indiens betrachtet, scheint die Welt des Islam von der christlichen kaum wesentlicher verschieden, als der Geist der griechisch-orthodoxen Kirche von der katholischen unterschieden ist.

Juden, Christen und Muselmänner sind Brüder. Wie alle drei Religionen historisch auf den Mosaismus zurückgehen, so ist es ein Geist, der sie letztlich von innen her beseelt. Heute sehe ich’s deutlich: es ist verfehlt von arischer im Gegensatz zu semitischer Kultur zu reden, sofern bisherige Gestaltung in Frage kommt: so sehr dem Semiten der germanische Zug ins Transzendente fehlt, so sehr dieser den Germanen dem Inder verwandt erscheinen lässt, seine ererbte Kultur ist mediterraneischen Ursprungs, und gleiches gilt von Romanen, Semiten und Türken. Lange vor Mohammeds Tagen waren die Geister der Antike und des nahen Orients, des Mosaismus, des Christentums und der Kelto-Germanen aus dem Norden, sofern diese sich romanisierten oder gräzisierten, zu einem Sammelwesen verschmolzen. So dass der Islam nur einen Sonderausdruck dessen bezeichnet, was von allem Okzidentalismus gilt.

Der Vergleich mit dem Indertum lässt mich sehr deutlich erkennen, worin dieser eigentlich besteht. Ihn kennzeichnet zweierlei: seine Weltzugekehrtheit und die Energie, mit der er die Erscheinung formt. Das unterscheidet ihn radikal von dem Orientalentum, das in Indien seinen extremsten Ausdruck findet. Das Bewusstsein des Hindu ist dem Wesen zugekehrt; so wendet er der Erscheinung den Rücken. Wenn er das Individuum gering achtet, in der Gestaltung dieses Leben versagt, irdischem Erfolg, wissenschaftlicher Erkenntnis, technischer Meisterschaft geringe Bedeutung zumisst, dem Nirwana zustrebt, unerhört spiritualisiert erscheint, so sind das ebensoviel Ausdrücke seiner typischen Lebenseinstellung. Alle Okzidentalen — die Mohammedaner immer einbegriffen — sind entgegengesetzt orientiert; ihre typischen Ideale finden ihren extremsten und zugleich prägnantesten Ausdruck in den christlichen Vorstellungen vom unendlichen Wert der Menschenseele und dem Gebot, das Himmelreich auf Erden zu verwirklichen. Mohammedaner sowohl als Christen sehen in diesem Leben das eigentliche Arbeitsfeld; beider Weltanschauung ist individualistisch insofern, als sie von keiner überindividuellen Wirklichkeit wissen (was sich weiter in eigentlichem Individualismus, wie wir ihn heute verstehen, äußern kann oder auch nicht); beide sind gegenüber den Hindus die größeren Idealisten, denn nur wer die Erscheinungswelt durchaus bejaht, kann innerhalb ihrer Ideale bekennen. Und beide sind andrerseits materialistischer gesinnt als jene, sintemalen sie den Ausdruck des Sinns, nicht diesen selbst, vor allem im Auge haben, was nicht notwendig, aber überaus leicht, Materialismus im eigentlichen Verstände zeitigt. Von allen Okzidentalen hegen die Mohammedaner die materialistischesten Vorstellungen; im islamischen Himmelstreben z. B. liegt gar keine Transzendenz. Aber man kann nicht sagen, dass sie als Menschen Materialisten wären; sie sind es weniger als die allermeisten Christen des heutigen Tags. Spirituell sind sie wohl nicht, aber Idealisten sind sie im höchsten Grade;- das Ideal des Glaubens steht ihnen hoch über allem Erfolg. Nur ist ihr Ideal ein statisches, ruhendes; daher ihre Unprogressivität, was den Anschein erweckt, als seien sie den Indern verwandter als uns. Der Anschein trügt aber, denn ihre Ruhe ist nicht die des Passiven, sondern die des Gesammelten. Es ist unsere, okzidentalische Energie, nur als Spannkraft dargestellt. Wer hierin etwas Unchristliches sieht, der vergegenwärtige sich doch im Geiste den Charakter der griechisch-orthodoxen Christenheit: der ist dem islamischen sicherlich näher verwandt, als dem der Methodisten.

Ja, der Islam ist ein Ausdruck unter anderen des okzidentalischen Geistes; er steht dem indischen nicht näher, als wir. Und ist dem Christen unmittelbar verständlich. Nichts ist unsereinem wirklich fremd an der Mentalität des Muselmanns. Freilich entwickelt sich der Islam in Indien mehr und mehr dem indischen Geiste zu; auf die Dauer lässt sich das Blut nicht spotten. Wie es in Persien schon längst geschah, kommt im indischen Islam mit jedem neuen religiösen Führer die mystische Rassenanlage stärker zur Geltung. So wird andrerseits das Christentum unsemitischer von Jahrhundert zu Jahrhundert. Mehr und mehr wird es zum Gefäß rein germanischen Unendlichkeitsstrebens. Schon heute kann man sagen, dass der Geist, der den Westen beseelt, etwas spezifisch Verschiedenes ist von dem jener Mittelmeerkultur, die seine Wiege bedeutet. Das hindert aber nicht, dass alle fertige Gestaltung noch durchaus aus ihrem Geiste stammt, welcher Geist allen Gebilden des Okzidents und nahen Orients gemeinsam zugrunde und mithin jenseits aller Rassengegensätze liegt. So mutet die Welt des Islams, auf indischem Boden betrachtet, den Abendländer heimatlich an.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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