Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Agra: Erscheinung und Sinn

Ist es, weil italienische Architekten für das Wunder des Taj mit verantwortlich sind, dass meine Gedanken hinüberschweifen nach dem fernen Italien? Oder wegen des renaissanceartigen Charakters der Mogul-Kultur? — Wohl aus letzterem Grunde. Diese Kultur bedeutet recht eigentlich dasselbe, wie das Rinascimento in Italien vom 15. bis zum 17. Jahrhundert.

Das heißt, sie bietet ein gleich großes Rätsel. Mir ist es immer unklar geblieben, wie einsichtsfähige Menschen wähnen können, die Renaissance begriffen zu haben, indem sie feststellen, dass diese auf das Neuanknüpfen mit dem klassischen Altertum zurückgeht. Wie kommt es, dass dieses Neuanknüpfen so Ungeheures zur Folge gehabt hat — nur damals (denn zerrissen war der Zusammenhang nie), nur auf einige Jahrhunderte und nie wieder? Wie kommt es, dass die Italiener nur um diese eine Zeit des Größten fähig waren? Biologisch sind sie heute noch die gleichen; sie sind nicht im mindesten entartet; noch immer ist wahr, was Alfieri behauptete, dass die Pflanze Mensch nirgends auf Erden besser gedeihe, als in Italien. Die Italiener von heute sind künstlerisch genau so begabt wie ihre Vorfahren: warum waren sie nur im Renaissance-Zeitalter groß? Damals kam offenbar ein Geist über sie, wie er ähnlich zur Zeit der großen Mogulkaiser über die Künstler Indiens gekommen ist; die empirischen Konstellationen waren derart, dass sie einem Geiste zum Ausdrucksmittel werden konnten.

Was das heißt, weiß ich selber nicht; seit Jahren ringe ich mit dem Problem. Aber der Tatbestand steht außer Frage: Höheperioden der Kultur, gleich der Renaissance, sind aus den nachweisbaren Kausalreihen nicht restlos zu erklären. Sie sind qualitativ verschieden von dem, was ihnen voranging und auf sie folgte. Sie verdanken ihr Dasein letztlich einem spirituellen Influx, der unverkennbar den Charakter der Gnade trägt. Diese Gnade verwandelt zeitweilig alle Natur. Ist aber ihr Quell versiegt, dann hilft keine Anstrengung mehr und kein Talent. Seit der Hochrenaissance Ist es abwärts gegangen in Italien mit der künstlerischen Kultur, trotz aller Genies, die wieder und wieder geboren wurden, und heute besitzen die Italiener von allen Völkern vielleicht am wenigsten schöpferischen Geschmack, obgleich sie noch immer die Kunstbegabtesten sind. Was bedeutet das? — Ich weiß es nicht. Aber seit ich den Taj gesehen, kommen mir allerhand kuriose Gedanken über das Verhältnis von Erscheinung und Sinn. Eine kleine Verschiebung innerhalb der empirischen Verhältnisse, und der Taj wäre nicht das Wunder, das er ist. Die richtigen können leicht durch Zufall gefunden worden sein. Eine geringfügige Veränderung in Wortwahl und Syntax verwandelt eine Trivialität zum Urwort und umgekehrt; eine versehentlich gezogene Linie, ein von ungefähr aufgesetzter Farbenfleck gibt dem Bild einen unnachahmlichen Ausdruck. Und dieser Ausdruck ist doch das Eigentliche, das, worauf der ganze Wert der Gioconda z. B. beruht. Sollte zwischen Notwendigkeit dem Geiste nach und empirischer Zufälligkeit ein geheimer Zusammenhang bestehen? So dass es einer Notwendigkeit entspricht vor Gott, wenn zufällig auf Erden ein Genie ersteht, zu bestimmter Zeit in die Geschichte eingreift, von ungefähr eine bestimmte Linie zieht? — Ich weiß nichts Bestimmtes, so vieles ich ahne. Aber durch die unmittelbare Manifestation eines selbständigen Sinnes allein scheinen mir die Wunder der Renaissance- und der Mogulenkunst erklärbar.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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