Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares

Als Brahma den Himmel mit seinen Göttern gegen Kāshi (Benares) abwog,

Sank Kāshi, als die schwerere, zur Erde hinab,
Der Himmel, als der leichtere, stieg hinan.

Ich muss wieder und wieder dieser Verse aus Shankaracharyas Manikarnikastotram gedenken, denn es weht ein Hauch göttlicher Gegenwart über dem Ganges, wie ich ihn gleich machtvoll noch nirgends gespürt habe. Des Morgens zumal, wenn die Frommen zu Tausenden die Ghâts bedecken, wenn die Gebete in goldenen Wellen der aufgehenden Sonne entgegenfluten und der Sinn sich in zartester Sinnenschönheit offenbart, scheint die ganze Atmosphäre durchgottet zu sein. Wie gut, dass die Inder seit Jahrtausenden diese Stätte als Heiligtum verehrt haben: so ist sie, dank des Glaubens Wundermacht, wahrhaftig zu einem Heiligtum geworden. Benares ist Shiva geweiht, dem schwarzhalsigen Gotte; aber nicht als Person, sondern als Ansicht des überpersönlichen Brahman, der nichts ausschließt und alles bedingt: So wallfahrtet ganz Indien nach Benares, unbekümmert um Sektenangehörigkeit. So könnte die ganze Menschheit hierher pilgern. Die schlanke Moschee Aurang-Zeebs, des fanatischen Muslim, wirkt nicht störend inmitten der Hindutempel. Und wie aus dem fernen Cantonment, vom Wind getragen, das Echo eines Chorals über dem Ganges schwebte, da war mir, als gehörte es hierher.

Benares ist heilig. Das oberflächlich gewordene Europa versteht solche Wahrheiten kaum mehr. Bald wird keiner mehr Wallfahrten unternehmen, und früher oder später, nur zu früh, wird die Christenheit ohne Heiligtümer dastehen. Wie arm wird sie dadurch geworden sein! Was soll die Frage, ob eine Stätte wirklich heilig sei? Wird sie lange genug für heilig gehalten, so schlägt die Gottheit unweigerlich ihren Wohnsitz auf in ihr. Dem Pilger, der sie betritt, wird es merkwürdig leicht, in Andachtsstimmung zu verweilen und diese Stimmung erweitert und vertieft. Freilich wäre es das Höchste, wenn einer überall die Gegenwart Gottes spürte, unabhängig von äußerlichem Beistand. Aber das vermag kaum einer unter Millionen. Nicht alle Jahre wird ein Menschenkind geboren, dass wie Jesus von sich sagen kann: ich habe, gleich dem Vater, alles Leben in mir; dessen Spontaneität so groß und so selbstherrlich wäre, dass sie keiner Auslösung bedürfte. Die Regel ist hier wie überall — in Kunst, Philosophie und Moral —, dass der Mensch nur das in sich erlebt, was ihm außer sich gezeigt wird, oder was die Eindeutigkeit mittelbarer Anregung reflexartig in ihm entstehen ließ. Verhielte es sich anders, so wären nicht allein Wallfahrtsorte überflüssig, es bestünde auch keine Veranlassung, große Männer in Dankbarkeit zu verehren, denn wozu verehrte man sie wohl, wenn sie nicht gäben, was wir ohne sie entbehren müssten? Die allermeisten haben Anregung nötig, um zum Höchsten in Beziehung zu treten, wo sie fehlt, dort entgotten sie sich. Solche gewährt für das Alltagsleben das Studium der Schrift, die Teilnahme am Kult. Allein die Routine des Alltags vermag nicht mehr, als den normalen Wachstumsprozess im Gang zu erhalten und Rückbildungen vorzubeugen; nur Außerordentliches bewirkt im Menschen, dem Gewohnheitstier, dem Unterschiedswesen, eine Beschleunigung der Entwickelung, eine plötzliche Niveauverschiebung. Zu diesem Zwecke haben alle Religionen Feiertage eingesetzt; den Umgang mit heiligen Männern empfohlen; besonders aber das Wallfahrten angeraten. Bei solchen trägt nämlich alles dazu bei, die religiösen Saiten der Seele zum Schwingen zu bringen und in dauernder Schwingung zu erhalten. Die Ortsveränderung lässt den Menschen zeitweilig seine gewohnten Umstände vergessen; das Ziel der Fahrt, stets im Auge behalten, schließt eben dadurch herabmindernde Erinnerungen aus; endlich steigert die Phantasie in der Erwartung den möglichen Einfluss des Heiligtums so sehr, dass die Seele sich dem wirklich vorhandenen mit äußerster Empfänglichkeit hingibt. Aber dieses Subjektive ist es nicht allein, das die Heilwirkung heiliger Stätten bedingt: diese werden objektiv heiligend durch die Kumulation der Glaubensvorstellungen seiner Besucher. Sie gewinnen auf die Dauer eine Atmosphäre, die auch den ergreift, der in unheiliger Stimmung hinzog. Und diese ihre weihende Kraft wächst mit der Zeit. Sie werden allmählich zu echten Gnadenbornen. Wer eine altgeheiligte Pilgerstraße in gläubiger Verfassung durchmisst, dem kann es geschehen, dass er sich an ihrem Ende seelisch weiter befindet, als ihn sonst Jahre innerer Arbeit gebracht hätten. Indien nun ist dicht durchzogen von Pilgerstraßen; es ist besäet mit heiligen Stätten; wieder und wieder wird der Wanderer, in immer neuem Zusammenhang, in immer neuer, deshalb anregender Form, an die Gegenwart Gottes erinnert. Nirgends aber so stark wie am Ganges. Dieser heiligste der Ströme entspringt in Shivas Paradies, am schneeigen Kailās in den Himalayas; wer dorthin gelangt, ist leiblich in Gottes Gegenwart. Dann durchfließt er die majestätischen Bergwälder, in denen Munis und Rishis hausen, Übermenschen, Jîvanmuktas, denen Leben und Sterben schon eins sind; wer bis zu ihnen dringt, den nehmen sie mitunter zum Jünger an. Und indem er sich südwärts wälzt, vom sonnenverbrannten Pandschab zu der fruchtbaren Ebene Bengalens, heiligt er fortlaufend Stätte auf Stätte. Zum Kailas ist noch keiner hinangestiegen; zu den Mahatmas nur selten einer gelangt. Aber Benares ist jedermann zugänglich. So ist diese Stadt der Brennpunkt aller Glaubensvorstellungen, die mit dem Ganges verknüpft werden, was ihr eine einzig dastehende heiligende Kraft verleiht.

Was ist es mit dieser psychischen Atmosphäre, welche offenbar objektiv-wirklich ist, deren Dasein ich deutlicher spüre, je länger ich lebe? Ich weiß es nicht. Ich nehme an, dass es sich um Schwingungen handelt, eines Äthers, der freilich kaum mit dem der Physiker zusammen fällt, aber doch um Vibrationen materieller Natur. Sicher sind Gedanken ebensosehr Dinge, wie die Gegenstände der Außenwelt, nicht minder real, und wahrscheinlich dauerhafter als man denkt. Der Zeitgeist ist ein nicht minder Objektives, wie die physische Luft. Wenn Vorstellungen nichts Stoffliches wären, sie könnten nicht anstecken. Ich wüßte auch nicht, wie ich sonst dazu kommen sollte, unmittelbar eine psychische Atmosphäre aufzufassen, sonst so stark beeinflusst würde vom Ort, an dem ich mich aufhalte, und verschieden, je nach den Wesen, die ihn dauernd bewohnen oder bewohnt haben. An der Wirklichkeit psychischer Luft kann nur der zweifeln, dessen Sinne zu stumpf sind um sie zu spüren. Ihre Theorie ist freilich ungeschrieben. Der einzige zusammenhängende Versuch, den ich wüßte, stammt noch von den alten Indern her: ich meine die dunkle Lehre von den Tattvas.1)

1 Die einzige ausführlichere Arbeit über diese Lehre, die mir bekannt wäre, bezeichnet Râma Prasâds Büchlein Natur’e finer Forces (London 1907, Theosophical Publishing Society), in welcher die Philosophie der Tattvas teils in Übersetzungen aus dem Sanskrit-Original, teils in selbständiger Ausdrucksweise, nicht undeutlich dargelegt erscheint.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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