Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Die heilige Silbe Om

Nichts ist häufiger unter den Betern am Ganges zu vernehmen, als die Wiederholung der heiligen Silbe Om. Diese soll den letzten Sinn der Welt verkörpern, das Α und Ω aller Weisheit; ferner die Tugend besitzen, dank den besonderen Innervationen, die bei ihrer Aussprache statthaben, nach genügend ausdauernder Wiederholung den Organismus dem Zustande zuzuführen, welcher der Realisierung des Atman am günstigsten ist. Es mag Wahres daran sein. Ich habe mir zeigen lassen, wie man das Om herauszubringen hat: es ist nicht leicht; lange kann es anscheinend keiner auf die einzig-ersprießliche Weise tun; es ist gut möglich, dass die Kombination bestimmter Körperbewegungen mit bestimmten, gleichzeitig festzuhaltenden Vorstellungen auch in diesem Falle nachhaltige Veränderungen im psychophysischen Gleichgewicht einleitet.

Aber selbst wenn der Glaube an die physische Wirkung der Om-Artikulation gegenstandslos sein sollte, bliebe der an die Tugend der Wiederholung gerechtfertigt. Der Aberglauben hat Recht gegenüber dem Rationalismus: es hat Sinn, einen geistigen Inhalt, von dem man ergriffen werden will, laut zu wiederholen. Napoleon pflegte zu sagen, la seule formale rhétorique sérieuse c’est la répétition: er wusste, dass man durch Wiederholung zuletzt jenes Unterbewusstsein beeinflusst, aus dem alles Tiefe und Dauerhafte stammt. In eben dem Verstände nützt es dem Gläubigen, sich das, was er realisieren will, in möglichst kurzen Worten vorzusprechen. Solche Wiederholung wirkt stärker als Denken; sie beeinflusst das Unterbewusstsein unmittelbar, das alle Inhalte automatisch mit dem Wort verknüpft, welche das Oberbewusstsein je mit ihm assoziiert hatte.

Aber freilich ist dies Verfahren nur im Falle dessen wirksam, dem das Wort einen lebendigen Sinn bedeutet und ernstlich zu tun ist darum, es in Leben umzusetzen. Die meisten Beter am Ganges plappern wie die Heiden, was immer die Idee ihres Handelns sei, mit keinem besseren Erfolg, als dass die andauernde Wiederholung der gleichen Laute sie in angenehmen hypnotischen Halbschlaf einwiegt. Ist je einem Gnaden- und Erbauungsmittel dieses Schicksal des Sinnlos-Werdens erspart geblieben? Ich glaube nicht. Desto weniger, als sie an sich ja alle sinnlos sind, genau nur soviel Sinn verkörpern, als der, welcher sie anwendet, ihnen zu schenken weiß. Das hat vielleicht kein religiöser Führer, mit der einzigen Ausnahme Buddhas, eingesehen; die meisten haben gemeint, was ihnen nütze, müsse allen nützen. Alle großen indischen Bhaktas haben das bloße Wiederholen des Namens Gottes als wirksamste geistliche Übung gepriesen. Für sich selbst mit Recht: in ihren exaltierten Seelen rief sie alle Vorstellungen, die sie allenfalls mit ihm verknüpfen konnten, besser wach als jedes umständliche Gebet, welches einerseits mehr Aufmerksamkeit auf den Wortlaut erforderte, andrerseits nie auch nur annähernd soviel besagen konnte, als der Name Gottes ihnen bedeutete. Ihren Jüngern nützte die gleiche Übung schon weniger, da deren Seelen nicht von der gleichen Glut verzehrt wurden, und deren Schülern bald überhaupt nichts mehr. — Es ist wohl ausgeschlossen, dass je eine Formel gefunden werden wird, die als solche einen religiösen Inhalt festzuhalten imstande wäre. Riten sind gut, denn sie regen seine Neuentstehung an; Dogmen sind immer misslich, denn sie verfälschen ihn. Hierfür gibt Luther wohl das eindrucksvollste Beispiel ab. Ich wüßte von wenigen gewaltigeren religiösen Erlebnissen, als es das seine war; was er unter Rechtfertigung durch den Glauben verstand, war ein so Ungeheures, eine so tiefinnerliche religiöse Erfahrung, wie sie in der ganzen Geschichte des Christentums außer ihm nur Augustin vielleicht beschieden gewesen ist. Nun aber die Formel der Rechtfertigung durch den Glauben selbst! Sie ist eine der unglücklichsten, die je gefunden ward, vielleicht die oberflächlichste aller möglichen Fassungen. Sie zwingt geradezu zur Auffassung, dass die Tatsache des Anerkennens eines bestimmten Dogmenkomplexes genügt, die Seele zu rechtfertigen und zu erlösen; dass alles tiefere Streben überflüssig, wenn nicht vom Übel ist. Dementsprechend hat Luthers Formel auf ihre Anhänger gewirkt. Die lutherische Religiosität wurde nur zu bald zu dem, was sie im großen und ganzen heute ist: einem billigen Fürwahrhalten gewisser Dogmen, gepaart mit noch billigerem Vertrauen auf Gottes Güte; zu einer Religiosität, die alles tiefere Erleben ausschließt. Im Fortwirken von Luthers Gotteserlebnis liegt echte Tragik. Die desto größer erscheint, wenn man erkannt hat, dass sie unabwendbar war: Luthers Erlebnis war ein schlechterdings Einziges; es konnte nicht verallgemeinert, kaum fruchtbar gemacht, werden. Martin Luther war zu wenig universell, um im Guten vorbildlich zu wirken. Und gerade er hat eine neue Epoche einzuleiten gehabt…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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