Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Sündhaftigkeit

Benares ist überfüllt von Kranken und Siechen. Kein Wunder: ein großer Teil der Pilger zieht ja her, um am Gestade des Ganges zu sterben. In diesen Tagen habe ich mehr von dem zu sehen bekommen, was den Prinzen Siddhartha einst zum Verlassen der Welt bewog, als je vorher. Und doch habe ich nie weniger Mitleid empfunden. Diese Leidenden leiden so wenig; sie haben vor allem so gar keine Todesfurcht. Die meisten sind überglücklich, am heiligen Strom dieses Dasein beschließen zu dürfen, und was das jeweilige Ungemach betrifft — nun, das muss eben ausgestanden werden; gar lange währt es ja nicht mehr. Und sicher amortisiert sich in ihm eine alte Schuld. — Der Glaube der Inder soll pessimistisch sein! Ich kenne keinen, der es weniger wäre. Er statuiert eine Weltordnung, in der die Wesen mit Unvermeidlichkeit aufwärts steigen, in welcher es höchstens unter Milliarden einem gelingt, hinabzusinken. Der ganze Weltprozess trägt ihn, wofern er fortschreitet, des ganzen Widerstand muss er überwinden, um zu verderben. Das Ziel dieses Aufstiegs ist freilich keines, dem der Westländer zulächeln mag; seine Seele ist noch zu jung, um nach Befreiung zu streben. Aber sicher ist, dass diese dem Hindu die gleiche Seligkeit verspricht, wie dem Christen sein Himmel.

Diesen Tag habe ich mit den Mitgliedern der hiesigen Ramakrishna-Mission verbracht. Die hat ein Asyl gegründet, in welcher die zum Sterben nach Benares Gekommenen Heimstatt und Pflege finden können. Wenige Kranke kämen wohl von selber darauf, um Aufnahme nachzusuchen; dazu dünkt ihnen ihr körperliches Leiden nicht wichtig genug. Aber eine bestimmte Anzahl Mitglieder der Mission macht täglich die Runde durch die Gassen der Stadt und sammelt die Siechen ein, deren Zustand ihnen am schlimmsten dünkt. Nie habe ich in einem Krankenhause geweilt, in dem eine freudigere Stimmung geherrscht hätte; die Heilsgewissheit versüßte aller Leiden. Und die Qualität der Nächstenliebe, welche die Pfleger beseelte, war exquisit. Diese Menschen sind wahrlich echte Nachfolger Ramakrishnas, des Gottestrunkenen. Voll Liebe und doch allverstehend, unfanatisch, unzudringlich. So wie alle Menschenfreunde sein sollten.

Der Umgang mit ihnen hat mir das, was die indische Frömmigkeit von der christlichen auch dort, wo sich beide Religionen am nächsten kommen, unterscheidet, recht deutlich zum Bewusstsein gebracht: der Inder kennt kein Sündigkeitsgefühl. Wohl kommt das Wort Sünde in seiner religiösen Literatur, falls den Übersetzungen geglaubt werden darf, nicht selten vor, aber der Inhalt, der ihm entspricht, ist ein anderer. Was wir Sünde heißen, kennt der Inder nicht. Er kann es nicht kennen, sintemalen er alle Vergehen (wie auch alle guten Handlungen) der Māyā zurechnet, so dass keines metaphysische Bedeutung besitzt. Jede Tat zieht, dem Gesetze des Karma gemäß, ihre naturnotwendigen Folgen nach sich; die hat jeder auf sich zu nehmen, von denen kann keine Gnade befreien. Die Erlösung aber besteht in der Befreiung von aller Naturbestimmtheit überhaupt, und ist diese erreicht, so erscheint aller Taten Spur verwischt. — Aber mit dieser Feststellung ist das eigentliche Problem noch nicht berührt. Das christliche Sündigkeitsbewusstsein beruht weniger auf dem Tatbestand der geglaubten Sündhaftigkeit, als auf dem Gebot, ihrer ständig zu gedenken. Und dieses verbieten die indischen Heilslehren. In denen heißt es: wie der Mensch von sich denkt, so werde er; stellt er sich dauernd als schlecht und niedrig vor, so werde er schlecht. Der Mensch soll nicht möglichst schlecht sondern möglichst gut von sich denken; nicht so zwar, dass er seinen jeweiligen Zustand exaltiert, sondern dass er niemals zweifelt, besser werden zu können. Es gäbe nichts Fortschritts fördernderes als Optimismus, nichts Verderblicheres, als Mangel an Selbstgefühl. Wer an sich selbst nicht glaube, der sei im eigentlichsten Sinne Atheist. Das Höchste wäre, wenn ein Mensch sich nicht als Sündigsten der Sünder, der christlichen Vorschrift gemäß, sondern dauernd als vollkommen vorstellen könnte: dem würde gewiss noch in diesem Leben die Vollkommenheit zuteil.

Wieder einmal ist der Hinduismus absolut im Recht; aus dem Verbot, bei der Sündhaftigkeit zu verweilen, spricht vollendete Seelenkenntnis; nichts könnte prinzipiell verfehlter sein als die christliche Auffassung. Ohne Zweifel sind unzählige Gebrechen der westlichen Menschheit auf diesen psychologischen Irrtum zurückzuführen. Heute darf er ja wohl als überwunden gelten. Nicht nur die emanzipierten Geister unter uns verwerfen die traditionelle Lehre, ein Gleiches geschieht immer mehr innerhalb der lebendig gebliebenen und folglich fortwachsenden Zweige der christlichen Kirche. Dieser Begriff der Sünde ist ein Überbleibsel aus dem Vorstellungskomplexe roher Zeiten, dazumal war er heilsam genug: nur durch ständige Angst vor dem Zorne Gottes konnten unsere gewalttätigen Vorfahren im Zaum gehalten, nur durch Zerknirschungskrisen hindurch einem höheren Zustande zugeführt werden. Auch heute noch tut vielen das Sündigkeitsbewusstsein gut. Und vielen ist es ferner so lieb, dass sie es wohl trotz besserer Einsicht weiterpflegen werden. Der Masochismus liegt dem Menschen tief im Blut; bis zu einem gewissen Grade empfindet jeder es als lebenssteigernd, von Übermacht vergewaltigt zu werden; aus der Zerknirschung der meisten christlichen Büßer klingt vernehmlich die Note der Wollust heraus. Gleichwohl wird jede spiritualisierte Menschenart früh oder spät den Sündigkeitsbegriff verwerfen müssen; von einem gewissen Punkt ab schadet er nur, denn in und an sich ist er verfehlt. Wohl gibt es Sünde — Sünde heißt man das, was der Mensch dem Gott in sich zuwider denkt und tut; in diesem Verstände wird jeder tiefere Mensch in aller Zukunft Sündbewusstsein kennen. Aber es gibt keine Sündigkeit im christlichen Sinn, keine Sünde, die nur und wesentlich Fessel wäre. Der Mensch, wie er dasteht, ist das Produkt seiner eigenen und seiner Vorfahren Taten. In jedem Augenblicke seines Daseins erlebt er die Vergeltung, welche der Christenglaube dem Jenseits aufspart. Und nichts, was er getan hat, richtet ihn. Solange die Seele lebt, solange ist sie des Aufstiegs fähig, ja meist gelangt sie aus rabenschwarzer Nacht heraus am schnellsten in den Glorienschein des Tags, weil deren Schrecken sie zur Erkenntnis zwingen, die ihr das Dämmerlicht nicht notwendig bringt, dass und inwiefern sie irre geht. — Hier, wie in so vielen anderen Fällen, stehen uns die Inder als die älteren und weiseren gegenüber. Aber nicht die Weisheit allein, auch die Torheit hat ihre Vorzüge. In Adyar, dächte ich, verweilte ich dabei, wie gut uns der wahnwitzige Glaube an eine ewige Verdammnis getan, wie sehr ihre tiefere Lehre der Masse der Hindus geschadet hat. Ähnlich steht es mit dem Sündigkeitsbewusstsein. Dieses schafft ein Pathos, das nichts ersetzen könnte, gibt dem Erleben eine spezifische Tiefe, die mit ihm steht und fällt. Von allen Menschen haben die Puritaner und die Muslim am meisten, die Hindus wohl am wenigsten Charakter. Das liegt daran, dass jene an ein massives unabänderliches Schicksal glauben, das dem Menschen als ein Äußerliches entgegensteht, diese hingegen an dessen schlechthinige Autonomie. Der indische Glaube entspricht der Wirklichkeit; im vollendet gebildeten Menschen gestaltet er das Höchste, was an Menschentum denkbar ist. Den ungebildeten hingegen entspannt er; er legt ihm nahe, sich gehen zu lassen, schlaff dahinzuleben. Dem bekommt es wohl besser, an der heilsamen Furcht vor einer noch so fiktiven äußeren Macht ein Motiv dauernder Selbstkontrolle zu haben.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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