Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Konzentration

Alles innere Weiterkommen, vom Augenblicke an, da die Organe erwachsen sind, beruht in der Tat auf Konzentration; meine eigene Entwicklung bestätigt das durchaus. Mit zwanzig Jahren war ich nicht dümmer als heute. Aber meine Fähigkeiten waren unkoordiniert, und da keine von ihnen, für sich allein betrachtet, bedeutend ist, so konnte ich nichts von Belang zustande bringen. Wie dann die literarisch-philosophische Tendenz zur Dominante ward, gewann ich einen ideellen Brennpunkt, um die Strahlen meines Geistes zu sammeln, und je mehr diese sich konzentrierten, desto leistungsfähiger wurde ich. Aus einer Republik erwuchs ich allmählich zur Monarchie, jedes Jahr wurde ich mehr Herr meiner selbst, und entsprechend geisteskräftiger. Lange Zeit hindurch ward mir das Sammeln, das ich früh als das Hauptproblem der Selbsterziehung erkannt hatte, durch Nervenschwäche erschwert; auf jede Anspannung erfolgte ein Zusammenbruch, was mich bis zu einem gewissen Grade zur Oberflächlichkeit zwang. Freilich, das Gefüge der Welt ist kein oberflächliches Werk, denn damals trug mich die Leidenschaft der ersten Jugend; aber die Unsterblichkeit hat Untiefen, und dieses nur, weil meine Nerven zur Zeit seiner Entstehung nicht gesund waren. Wären sie dies gewesen, dieses Werk, das meinem Herzen näher liegt, als alle anderen, wäre nicht schlechter ausgefallen als die Prolegomena; denn konzipiert habe ich diese ja im gleichen Jahr, nur glücklicherweise erst drei Jahre später ausgearbeitet. Tiefsinn als Triebkraft ist eine unmittelbare Funktion der nervösen Energie: wer sein Gehirn nicht anspannen darf, kann nicht tief denken, so tiefe Intuitionen ihm immer kommen mögen. Es scheint ja wohl gewagt, Gedankentiefe am Dynamometer messen zu wollen, aber es ist möglich, weil die Durchdringungskraft der geistigen Strahlen vom Grade ihrer Sammlung abhängt, und diese ihrerseits von der vorhandenen Nervenkraft. Aber mit dieser Feststellung ist die Bedeutung der Konzentration für die Entwicklung nicht erschöpft. Je mehr der Geist sich sammelt, desto ruhiger wird er, desto leistungsfähiger als Instrument. Solange die Oberfläche in ständiger Bewegung ist, können die Intuitionen aus der Tiefe nicht stetig hindurchscheinen; sie mögen noch so oft hervorblitzen, die Dauer der Belichtung ist zu kurz, um die Oberfläche zu transfigurieren. Der gesammelte Intellekt lässt nicht allein die Intuitionen hindurch, er wird ihnen zum gefügigen Organ, so dass die ganze Psyche zuletzt zum Ausdrucksmittel des innersten Lichtes wird. So finde ich mich von Jahr zu Jahr voller werden. Anstatt dass der kalte Verstand mehr und mehr das Übergewicht über die lebendigen Kräfte der Seele gewinnt, entwickele ich mich umgekehrt vom Verstandesmenschen wachsender Konkretheit zu; der Intellekt wird mir immer mehr zum gefügigen Ausdrucksmittel, nachdem er einstmals mein Beherrscher war. Alle diese Fortschritte sind unmittelbare Folgen der zunehmenden Konzentration. Auf allen Gebieten, den schönen Künsten bis zu einem gewissen Grade ausgenommen, schafft das Alter das Bedeutendste, obschon die Produktionskraft als solche wohl bei allen Menschen in den dreißiger Jahren am größten ist. Das liegt daran, dass der Geist erst spät den Grad der Sammlung erreicht, der ihm das längst Erfundene ganz zu fassen erlaubt.

Das Vorbildliche an der indischen Kultur beruht darauf, dass sie wie keine andere auf Konzentrierung allen Nachdruck gelegt hat. Was ich im Vorhergehenden über die Yoga ausgeführt habe, bezeichnet ja nur einen Bruchteil dessen, was dieser Begriff dem Inder umfasst: ihm umfasst er alles Bildungsstreben überhaupt. Bei der Steigerung der Fähigkeiten zur Erkenntnis handelt es sich schließlich um ein Technisches; es liegt, in wie verschiedener Richtung immer, auf einer Ebene mit unseren Bestrebungen, uns die Kräfte der Außenwelt dienstbar zu machen. Wir haben vermittelst eines gegebenen Werkzeugs die Welt verwandelt, die Inder sich in erster Linie der Vervollkommnung des Werkzeuges gewidmet, und nur in Rücksicht auf vorausgesetzte praktische Zwecke ist eine Entscheidung möglich darüber, welche Alternative vorzuziehen sei. Indiens absoluter Vorzug vor dem Westen beruht auf der Grunderkenntnis, dass Kultur im eigentlichen Sinne nicht auf dem Wege der Verbreiterung, sondern nur dem der Vertiefung zu erringen sei, und dass das Tieferwerden vom Konzentrationsgrade abhängt. Ein konzentrierter Mensch ist niemals oberflächlich; in der Richtung, nach welcher zu er sich verdichtet hat (was freilich nicht alle und nicht die wesentlichsten zu sein brauchen) ist er notwendig tief. Deswegen behauptet die indische Weisheit, dass Religiosität und Moralität erarbeitbar seien; nicht zwar lehrbar im sokratischen Sinne, aber erreichbar jedem Einzelnen auf dem Wege bewusster Selbstkultur. Nur der Oberflächliche könne irreligiös sein; sobald die Tiefe der Seele durch die Oberfläche hindurchscheint, entstehe Gottesbewusstsein. Nur der Oberflächliche könne zweifeln an dem Unterschied zwischen Gut und Böse, denn es handele sich um objektiv wirkliche Verhältnisse, die man entweder wahrnimmt oder nicht; und der vollendet Vertiefte könne nur Gutes wollen. Deswegen komme alles auf Selbsterziehung, auf Yoga an. Es sei absolut gleichgültig im Prinzip, als wer man anhebe: als Atheist oder Theist, als Immoralist oder Skeptiker; Ansichten, und Meinungen seien immer irrelevant; man müsse wissen. Das Wissen aber ergebe sich von selbst mit fortschreitender Verinnerlichung.

Dass der Grad des religiösen Realisierens (im weitesten Sinne) und des moralischen Unterscheidungsvermögens von der Tiefenlage abhängt, in der eines Menschen Bewusstsein wurzelt, ist gewiss. Und dass der Mensch vertiefungsfähig ist, kann ebensowenig bestritten werden. Die Besten im Westen haben dies auch immer erkannt. Aber Indien allein hat es verstanden, diese Erkenntnis fruchtbar zu machen für die weiteste Praxis. Das ist, wie gesagt, das Vorbildliche dieser Kultur. Wir werden gut tun, ihr baldmöglichst hierin nachzueifern. Was ist denn der Kern alles dessen, was uns an unserem Zustande tadelnswürdig scheint? dass unsere aufs äußerste differenzierten Kräfte zu dermaßen selbständigen Wesenheiten herangewachsen sind, dass deren Zentralisierung nicht mehr gelingen will, weswegen alles, was nur aus dem Zentrum hervorgehen kann, zu sein aufhört. Vom höchstentwickelten modernen Kulturmenschen heißt es, dass er nicht mehr zu lieben wisse. Allerdings nicht: er besitzt wohl sämtliche Elemente, die zur Liebe gehören, und in reicherer Ausgestaltung vielleicht als irgendein früherer, aber deren Synthese gelingt ihm nicht. Die Sinnlichkeit geht ihre besonderen Wege, desgleichen die Idealität, desgleichen die gefühlsmäßige Zuneigung und so fort. Zur vollen Liebe kommt es nicht, außer im Paroxysmus der Leidenschaft. Folgerichtig wird denn zu unserer Zeit die Leidenschaft als solche verherrlicht; wie nie vorher wird die Naturkraft über alles hochgeschätzt. Wieder einmal wird von den Dächern sämtlicher Großstädte zurück zur Natur geschrieen. Das sind ebensoviel Missverständnisse. Die Leidenschaft bezeichnet auch beim Tier eine Krisis, und alle Großtaten, die während ihrer vollbracht werden, bedeuten nichts; in der Leidenschaft erweisen sich Schwächlinge als stark, Feiglinge als mutig, und bleiben doch wesentlich was sie waren. Was aber das zurück zur Natur betrifft, so kann eine erreichte Kulturstufe durch Hinabsteigen nimmer überstiegen werden. Freilich sollen wir wieder unmittelbar werden, aber Unmittelbarkeit und Tierischsein sind nicht Wechselbegriffe. Um auf das Beispiel der Liebe zurückzukommen: animalische Sinnlichkeit wird vielfach als ihr Ganzes betrachtet, weil sie ein Unmittelbares ist, was von ihren höheren Formen selten gilt. Wirklich scheint die Sinnlichkeit das Ganze der Liebe zu werden, wo ein Kulturvolk seiner Erschöpfung nahekommt; so geschah es bei den späten Römlingen, so wird es heute mehr und mehr in allen degenerierten Kreisen West-Europas. Aber wo die Lebenskraft noch nicht erschöpft ist, dort gibt es einen besseren Weg zur Unmittelbarkeit: über die Differenzierung hinaus durch Konzentration. Das ist der Weg, den Indien gegangen ist, das ist der, auf dem wir jetzt weiterschreiten müssen.

Dieser Weg, er allein, führt über unseren heutigen Zustand hinaus. Es gilt durch Konzentration die emanzipierten Kräfte dem zentralen Leben wieder zuzuführen, aus Streikern zu dienstwilligen Organen zu machen. Nichts an unserem Zustande brauchen wir zu verleugnen. Die in der Geschichte der Menschheit unerhörte Breite der modernen Seele darf nicht eingeschränkt werden, denn sie bezeichnet ein absolutes plus; die ungeheure Differenziertheit unseres Wesens ist ein Vorzug. Wir müssen nur diesen ganzen, so wunderbar reichen Körper von der gleichen Tiefe her beseelen, in welcher der Inder lebt; wir müssen die Oberfläche, deren allein der moderne Mensch sich meistens bewusst ist, zum Spiegel der Tiefe machen und die Organe aus Selbstzwecken wieder zu Ausdrucksmitteln. Gelingt uns dies, so werden wir ohne jeden Zweifel zu Vertretern des höchsten Menschheitszustandes werden, der bisher dargestellt worden ist. Je reicher die Ausdrucksmittel, desto besser kann der Sinn sich manifestieren; Gott, dem das Weltall zum Ausdrucksmittel dient, ist eben deshalb mehr Gott als der Mensch. Aber andererseits: je reicher die Mittel, desto größerer Energie bedarf es, sie zu beherrschen. Deshalb ist die Aufgabe für uns viel mühsamer als für die Inder. Wie oft habe ich neidvoll geseufzt, indem ich sie ansah: wie leicht habt ihrs, tief zu sein! Eure Fläche ist so gering, euer Leib so mager, dass es nicht eben schwer halten kann, eure ganze Natur zum Ausdrucksmittel des Geistes zu machen. Wir fetten, reichen Europäer müssen es uns sauer werden lassen, um nur einen Teil eures Weges zu durchmessen… Dann aber sagte ich mir: gelingt uns nun, was euch gelang — werden wir dann nicht Übermenschen sein? — Nietzsches Übermensch grenzt nur die physiologische Basis ab, bezeichnet sonach einen Weg, vielleicht den Westländerweg, aber nicht das Ziel. Die Übermenschen der Theosophie, die Meister, sind zu weltentrückt, zu menschheitsfern, um uns als Vorbilder voranzuleuchten. Ich weiß nicht, wie beschaffen der Übermensch sein wird. Aber sicher wird er, wenn überhaupt, aus der Konzentrierung unserer sämtlichen Kräfte hervorgehen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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