Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Benares: Atemübung

Daß das Vorbildliche der indischen Kultur nicht früher erkannt worden ist, und wo dies geschah, nicht immer zu gutem Ende, liegt an der Unfähigkeit der meisten, einen Sinn unabhängig von der Erscheinung zu erfassen. Eine Erscheinung ist nirgends übertragbar, ohne dass sie Schaden stiftete; sie ist überall das Produkt bestimmter, nur einmal vorhandener Verhältnisse, und daher nur einem bestimmten Zustande gemäß. Wenn schon die Anglomanie noch keinen gefördert hat, so gilt dies in erhöhtem Maße von der Indomanie, und am meisten bezüglich des Bedeutendsten an Indien: seiner Konzentrationskultur. Es ist sehr bezeichnend, dass die indischen Atemübungen, welche der Svami Vivekānānda durch seine Vorträge in Amerika populär gemacht hatte, keinem einzigen Amerikaner zu einem höheren Zustande verholfen, aber desto zahlreichere in Kranken- und Irrenhäuser gebracht haben sollen. Hatha-Yoga gilt schon in Indien als nicht gefahrlos; viele Übungen sind von allen Autoritäten schon längst als unbedingt schädlich gebrandmarkt worden und erhalten sich nur dank der unausrottbaren Neigung aller Menschen, das Bedenkliche dem Unbedenklichen vorzuziehen. Aber selbst von den harmlosesten unter ihnen ist nicht erwiesen, ob sie Europäerorganismen angemessen sind; es könnte sein, dass sie alle den Meisten mehr schaden als nützen. So förderlich Atemübungen im allgemeinen sind — über die Richtigkeit der Idee, dass das Atmen gleichsam das Schwungrad des ganzen psychophysischen Organismus bezeichnet, und dass vollendete Kontrolle des Atmens zu Selbstbeherrschung in jedem Sinne führt, besteht kein Zweifel — welche besonderen in Frage kommen, hängt ganz von den jeweiligen empirischen Umständen ab. Das Vorbildliche an der indischen Konzentrationskultur ist deren Grundidee, nicht die spezifische Erscheinung. Was diese betrifft, so kann schwer geleugnet werden, dass sie vom Standpunkte unserer Ideale nicht wenig zu wünschen übrig lässt; das Meiste von dem, was unseren Stolz bezeichnet, fehlt in Indien. Aber die Inder haben auch nie unsere Ziele verfolgt; also kann man ihnen ihr Versagen nicht zum Vorwurf machen.

Um das wahrhaft Vorbildliche an ihrer Kultur zu erfassen, ist es gut, anstatt an indische, an okzidentalische Erscheinungsformen der gleichen Idee zu denken (die im Westen freilich nie als solche bewusst die Entwickelung bestimmt hat): z. B. die Engländer als Nation und gewisse höchste amerikanische Geschäftsmänner-Typen. Die Naturanlage des Engländers ist beschränkter als die des Deutschen und des Russen; aber jener bringt doch mit seinem Wenigen mehr zustande als diese mit ihrem Überfluss. Man staunt oft über die Vielseitigkeit englischer Aristokraten, die heute Journalisten, morgen Vizekönige, übermorgen vielleicht Handelsminister sind, und wenn sie gerade Zeit haben, gute Werke historischen oder philologischen Inhalts schreiben. Nun könnte, was die Vielseitigkeit als solche betrifft, Deutschland sowohl als Russland einem vielseitigen Briten ein Schock weit vielseitigerer entgegenstellen; aber jener allein weiß seinen Reichtum so zu organisieren, dass jedes einzelne Element sich als produktiv erweist. Der Engländer hat sich mehr in der Hand, als irgendein Europäer; eben deshalb wirkt er als der tiefste; als der tiefste im menschlich-charakterlichen Sinne. Er ist, trotz seiner Kulturhöhe, ganz ungebrochen, ganz unzersetzt, fest verankert in seinem lebendigen Grund, wie kein anderer überlegen. Das verdankt er der Yoga. Nicht der indischen zwar, aber der, welche Puritanismus und Methodismus durch ihren Ideengehalt entstehen ließen; einer Konzentrationskultur nicht minder intensiv, wie abweichenden Charakters immer, als die von Indien. — Das andere okzidentalische Beispiel für die Bedeutung der indischen Grundidee liefern die ersten der amerikanischen Geldkönige. Wer immer solchen begegnet ist und sie nach der Formel ihres Schaffens gefragt hat, wird die Antwort erhalten haben: wir arbeiten mit der Intuition allein; Reflexion führt nicht schnell genug vorwärts. Das heißt, sie operieren dauernd mit dem Vermögen, das der gewöhnliche Mensch nur ausnahmsweise ausübt, meist nur beim Planen und in wichtigsten Entscheidungen, die keinen Aufschub dulden. Und das heißt weiter: sie haben eine Entwickelungshöhe erreicht, auf welcher das Außergewöhnliche normal, das Äußerste zur Basis geworden erscheint. Eben dies gilt von den indischen Yogis. Was diesen den absoluten Vorrang gibt in der Idee, so dass man vor der Ewigkeit Recht hat, indem man von westlichen Erscheinungsformen des indischen Grundgedankens spricht, ist, dass sie allein Sinn und Wert ihres Tuns erfasst haben. Erkenntnis ist das Wichtigste auf dieser Welt; erst eine erkannte Wahrheit wird ganz produktiv. Uns kann es gleichgültig sein, ob die Inder selbst es weit gebracht haben oder nicht. Aber ewig werden wir ihnen Dank wissen müssen dafür, dass sie den Sinn dessen erfasst und geoffenbart haben, was von jeher, ob noch so unerkannt, die Seele alles inneren Fortschreitens war. Dank dieser Erkenntnis werden wir nunmehr, jedes Volk und jeder Einzelne in der Richtung, die seine Naturanlagen ihm weisen, zehnmal schneller vorwärts kommen als bisher.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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