Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Buddha-Gaya

An dieser heiligsten Stätte des Buddhismus weht eine wundersame geistige Luft. Es ist nicht die Atmosphäre des Buddhismus als solchen, wie ich sie vorgestern erst in Sarnath gespürt; nicht die der Andacht überhaupt, wie am Ganges oder zu Rāmeshvārām; auch nicht jene Stimmung der Weihe, welche jedes große Denkmal umgibt: es ist der eigenste Geist einer Stätte, wo ein bestimmter Mensch von einzig dastehender Größe sich selbst gefunden hat. Vieles mag dazu beigetragen haben, dass er sich so mächtig und rein erhalten hat, so mächtig und rein in jedem empfänglichen Gemüte neuersteht. In erster Linie ist es gewiss die Tatsache, dass Buddha eben hier, im Schatten des Bodhibaums, der heute noch grünt, seine Erleuchtung fand — eine Erleuchtung von solcher Intensität, dass sie fort und fort in Millionen von Seelen nachleuchtet. Dann stellt Buddha-Gaya eine historische Monade dar, so ausschließlich, wie nur ganz wenige Stätten dieser Welt; ich wüßte nur noch Delphi zu nennen. In einem künstlichen Tale abgeschlossen ruht das Heiligtum, eine Welt für sich, in der jedes Einzelne an die großen Tage von einst gemahnt; der Tempel, die Steinzäune, die Daghobas — alle stammen noch aus Açokas Zeiten. Endlich tragen die Pilger dazu bei, dass die verklingenden Schwingungen immer wieder aufleben. Buddha-Gaya liegt fern ab von den Reichen, in denen der Buddhismus heute blüht; nicht viele wallfahrten her. Die aber, welche den weiten Weg nicht scheuen, meinen es ernst; bloß Neugierige kommen nicht. Heute weilen einige Birmaner, ein paar Japaner und ein Dutzend Tibetaner hier; alle tief durchdrungen davon, was Gaya für die Menschheit bedeutet, und so vibrieren ihre Seelen in Harmonie mit den Schwingungen der Stätte selbst. Tiefster, heiligster Friede waltet hier; alle Stimmen dämpfen sich von selbst. Und die alten Bäume flüstern sich leise leise ihre großen Erinnerungen zu.

Buddha-Gaya ist für mein Gefühl der heiligste Ort der ganzen Erde. Jesu Lehre war tiefer als diejenige Gautamas, aber ein so überlegener Mensch, wie der Buddha, war er nicht. Er war eine jener Sonnennaturen, wie sie hie und da von ungefähr auf der dunklen Erde erstehen, ein Sonntagskind, über das der Geist als ein reines Geschenk gekommen war, der für Menschenbegriffe nichts dafür konnte, was und wer er war. Er war wirklich ein Gott unter Menschen. Allein der geborene Gott bedeutet weniger für uns als der Mensch, der sich zur Gottheit emporrang, und ein solcher ist Buddha gewesen.

Die buddhistische Legende erzählt, dass die Götter vor Buddha, dem Menschen, angebetet hätten; und den Brahmanen erscheint sie nicht unglaubwürdig. Die Inder haben, im Gegensatz zu uns, das Verhältnis von Gnade und Verdienst immer richtig verstanden und gedeutet. Ohne Zweifel wird das Äußerste dem Menschen durch Gnade allein zuteil, aber nie doch kommt die Gnade unverdient: sie ist die notwendige Krönung des Verdienstes. Was die mystische Redeweise mit dem Erlebnis des Hereinbrechens der Gnade besagen will, ist jenes Hindurchgehen durch einen kritischen Punkt, jene scheinbare solution de continuité, die überall in der Natur zwischen qualitativ verschiedenen Zuständen liegt. Wie nach stetiger Temperaturerhöhung das Wasser auf einmal zu Dampf verweht oder nach stetigem Sinken auf einmal zu Eis gerinnt — so folgt der Zustand der Gnade auf den des Verdienstes. Freilich braucht das Verdienst nicht in unserem Sinne eines zu sein; die Wege Gottes entsprechen nicht notwendig den Postulaten von Vernunft und Moral; unbefangene Sünder sind dem Heil meist näher als behutsame Gerechte. Aber nie doch wird die Gnade einem zuteil, der sich nicht in seinem dunklen Drange des rechten Weges wohl bewusst gewesen wäre, nie einem Kleinen, einem Feigen, einem Gemeinen; sie setzt eine Qualität des Willens voraus und eine innere Wahrhaftigkeit, die deren noch so unvollkommenen Besitzer über alle Tugendhaften hoch hinaushebt. Die Masse der Menschheit ahnt wohl, dass es einen Aufstieg gibt, aber sie weiß nicht wie und wo ihn zu beginnen. Erscheinen Sonnensöhne, gleich Jesus, an ihrem Horizont, so verehrt sie wohl, glaubt wohl auch der Verheißung, ist aber kaum ermutigt, denn der Abstand erscheint zu groß und der Weg zu ihnen hinan nicht deutlich. Ersteht hingegen einer aus ihrer Mitten, der, geboren ein Mensch wie alle, sich über das Menschentum dennoch hinausarbeitet, dann fühlt sie sich begeistert, beschwingt, und folgt ihnen hoffnungsfroh nach. So war es immer. Durch Christi Beispiel als solches wäre die westliche Menschheit nie zum Aufstieg angespornt worden; er war zu inkommensurabel; er ist auch nicht der Vater des Christentums. Wäre Paulus nicht aufgetreten, ein Mann, der, ein Weltkind, jedermann verständlich, zuletzt zum Heiligen erwuchs, wir wüßten von Jesus nichts mehr. Und dass das Christentum zur Weltreligion ward, zu einer frohen Botschaft für den ganzen Westen, das ist das Verdienst Augustins. Diese gewaltigste aller ethischen Naturen, die der Okzident hervorgebracht, hat das menschliche Beispiel gegeben, dank welchem Christus erst zum Beispiel hat werden können. Sein Leben bewies, dass die Sünde nicht bloß Hemmung sondern auch Hilfe ist, dass es gerade die Schranken der Natur sind, die deren Überwindung möglich machen; dass die Unvollkommenheit eben der Stoff ist, dessen Gott bedarf, um im Menschen Gestalt zu gewinnen. So gilt sein Beispiel wirklich für jedermann. — Aber Buddha war noch größer als Augustin. Von größerem Menschentum ist er ausgegangen, tiefere und reichere Erfahrungen hat er gemacht; und eine Höhe der Überlegenheit zuletzt erreicht, wie keine andere Persönlichkeit der Geschichte. Er war so groß, dass der eine Antrieb genügt hat, um das Rad des guten Gesetzes bis heute in Bewegung zu erhalten. Der Buddhismus hat keinen Paulus gehabt und keinen Augustin. Sambuddha war ihm alles in allem.

Die Schriftgelehrten wundern sich oft mit der Naivität, die ihr Götterrecht ist, darob, woher es nur komme, dass Christus und Buddha so viel mehr bedeuten als alle großen Geister der Vor- und Nachwelt, wo jener doch nichts gelehrt hat, was nicht vor ihm und nach ihm auch verkündet worden wäre und dieser an Tiefe der Erkenntnis hinter seinen Vorgängern zweifellos zurückstand: der Grund ihrer größeren Bedeutung ist der, dass das Wort in ihnen nicht Wort geblieben, sondern zu Fleisch geworden ist; das aber ist das Äußerste, was zu erreichen ist. Um weise zu erscheinen, bedarf es bloß des Schauspielertalents, um im üblichen Sinne weise zu sein, nur eines überragenden Geistes: bis dass einer zum Buddha wird, muss das Höchsterkannte zur zentralen, treibenden Kraft des ganzen Lebens geworden sein, muss es die Macht gewonnen haben, unmittelbar die Materie zu regieren. Wie leicht lässt sich Gedankenstoff bewegen! wie leicht zu den herrlichsten Gestalten bilden! Im gleichen Sinn das ganze Ich zu formen, so dass jeder einzelne Trieb zum Organ des Ideales wird — das setzt ein Kraftmaß voraus, das übermenschlich scheint. Wohl ist es in jedem latent vorhanden, wie denn das kleinste Molekül genügend Energie in sich beschließt, um, falls sie frei würde, ein Reich in die Luft zu sprengen. Allein der Mensch verfügt nicht über sie; erst der Übermensch kann mit ihr schalten. Der Mann, in dem eine Erkenntnis, die an sich geringer war, als ein Vyasa sie besessen haben mag, zum schöpferischen Wesenszentrum ward, ist mehr als alle Weisen je waren.

Es ist tief bedeutsam, dass der größte aller Inder kein Yogi und kein Rishi war; dass er, nachdem er zuerst dem traditionellen Ideale nachgestrebt hatte, dieses nachher verleugnete. Er als einziger Inder hat erkannt, dass kein bestimmter Zustand, so hoch er immer sei, ein absolutes Ideal verkörpert; dass der Yogi als solcher dem Ziel nicht näher steht als die Hetäre; dass Vollendung das eine ist, was not tut. Und weil diese Erkenntnis in ihm zum Leben ward, das Wort zu Fleisch, nicht als Geschenk von oben, sondern auf dem Wege natürlichen Wachstums, durch intensive Selbstkultur beschleunigt, deswegen bezeichnet Buddha das größte Beispiel der Geschichte. In ihm erst ist die indische Grunderkenntnis ganz fruchtbar geworden, dass es von uns abhängt, ob wir Menschen bleiben oder hinauswachsen über alle Bestimmtheit durch Name und Form. Die Rishis benutzten sie zum Hinausfliegen über die Erscheinungswelt, die Yogis meist nur zur Erklimmung einer höheren Staffel in derselben. Buddha allein unter Indern hat sie richtig verstanden und für seine Person vollkommen richtig angewandt: daher die ungeheure Zeugungskraft seines Beispiels, das heute fruchtbarer zu werden verspricht, als es jemals war. Buddhas Lehre freilich ist nichts weniger als frei von den Bindungen von Name und Form; sie ist nur eine Ausdeutung unter anderen des indischen Grundgedankens, und von allen wirksam gewordenen vielleicht die oberflächlichste. Aber Buddha war überhaupt kein Denker. Man tut ihm Unrecht, indem man ihn nach dem Wahrheitsgehalt der buddhistischen Lehre beurteilt. Ihm bedeutete diese anderes und wesentlich mehr, als ihr Wortlaut zu ahnen gestattet und diese Bedeutung bestimmt noch heute zum großen Teil den Charakter des Buddhistentums. Die vier edlen Wahrheiten, an sich beinahe Trivialitäten, bergen einen spirituellen Kern, der durch die noch so dürftige Schale hindurchwirkt. Die buddhistische Lehre ist eben in Wahrheit nur ein Gelalle wie so vieles des Höchsten, was die Menschheit besitzt; ein Gelalle, das doch wieder und wieder verstanden wird und geheimnisvollerweise mehr Leben weckt als die meiste artikuliertere Weisheit. Aber der Buddhismus ist es doch nicht, der Buddhas einzigartige Größe bedingt: es ist das lebendige Beispiel, das er gab. So erklärt es sich, dass in dem Indien, wo sonst keine Wirklichkeit standhält, wo alle historischen Gestalten im Nu zu Träumen zerrinnen, dieser eine Mensch fortgelebt hat in Erinnerung, Wort und Bild, so wie er auf Erden gewandelt ist. Ich denke von hier aus an das zurück, was ich zu Benares über Heilige und Weise als Grundtöne niederschrieb. Eins habe ich damals auszuführen vergessen: inwiefern Buddha einen tieferen Grundton verkörpert als alle Rishis. Er tut es insofern, als das Leben tiefer liegt als die Erkenntnis. Ein zu Fleisch gewordenes Wort bedeutet mehr als dieses an sich. Deswegen steht der Heilige über dem Weisen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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