Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

In den Himalayas: Der Geist kann Berge versetzen

Jedesmal, wo mein Blick auf die Giganten vor mir fällt, kommt mir refrainartig der Spruch in den Sinn der Geist kann Berge versetzen. Nie bin ich mir dieser Wahrheit mit solcher Selbstverständlichkeit bewusst gewesen wie hier, wo die Materie übermächtig scheint. Anstatt mein Freiheitsgefühl zu beeinträchtigen, steigert sie es; wie denn alles Bewusstsein überhaupt am Widerstand entsteht.

Der Geist kann Berge versetzen. (Die übliche Fassung, welche dem Glauben solche Macht zuerkennt, ist zu eng und überdies missverständlich: nicht die Zuversicht als solche wirkt das Wunder, sondern der Glaube setzt den Geist in den Vollbesitz seiner Kraft.) Selbstverständlich kann er das. Es ist lächerlich, diese Wahrheit zu bezweifeln, fast so lächerlich, wie sie besonders beweisen wollen. Was tue ich denn, indem ich will, denke, handele? Ich beeinflusse als Geist den Stoff; es besteht kein Unterschied des Prinzips zwischen der banalsten Gebärde des Augenblicks und dem Wunder, dass ein Zauberer wirken mag. Meine eigene Vorstellungswelt ist Außenwelt dem Ich gegenüber genau so sehr, wie der fernste Stern im Weltenraum; soweit die Eigengesetze der Materie dies gestatten, genau soweit hat der Geist Macht über sie. Diese Grenze ist freilich unüberschreitbar, denn mit ihrer Aufhebung verflüchtigte sich die Natur; aber innerhalb ihrer ist nichts ihm prinzipiell unmöglich, und innerhalb ihrer liegt die Welt.

Also stehe ich den Schneegipfeln des Himavat nicht wesentlich anders gegenüber, als jenem Leib, der mir nun schon über dreißig Jahre zum nächstliegenden Werkzeuge dient. Sogar das trifft nur in einer Hinsicht zu, dass ich ihnen leiblich ferner stehe als mir selbst: mit meinen Augen berühre ich sie unmittelbar, in Gedanken bin ich bei ihnen, auf ihnen; denn soweit bei Gedanken überhaupt von Raum die Rede sein kann, sind sie dort, worauf sie sich heften. Es gibt keinen Punkt im Universum, dem ich nicht ebenso nahe sein könnte wie mir selbst. Ob ich es bin, hängt von der Richtung meiner Aufmerksamkeit ab; man kann buchstäblich fern von, ja außer sich sein. So ist es wohl buchstäblich wahr, was die indische Weisheit lehrt, dass die Vereinzelung letztlich vom Egoismus (Ahankara) verursacht wird und mit dessen Überwindung verschwindet: strömten alle meine geistigen Energien aus, wie die Strahlen der Sonne, kehrte keine zurück, durch Interesse in meine Person zurückgebannt, dann wäre ich frei sowohl als grenzenlos. Und solches Freiwerden ist möglich, denn es besteht keine unlösbare Verknüpfung, (wie andrerseits keine, die nicht herstellbar wäre) zwischen Geist und Naturvorgängen. Dies denn wäre der Sinn jener Verdammung des Selbstinteresses, in dem alle höheren Religionen übereinstimmen: durch Selbstsucht verringert sich der Mensch. Mit jedem Gedanken, der nicht ausströmt in die Unendlichkeit, sondern zurückkehrt zum Körper, der ihn entsandte, schneidet er sich ab von seiner eigenen weiteren Wirklichkeit.

Ich blicke hinaus in die herrliche Welt ringsum, als die ich mich empfinden könnte, wofern ich freier wäre von meiner Person. Objektiv, als Natur, hänge ich ja fest mit ihr zusammen: ich bin nur ein Kraftzentrum unter anderen im unendlichen Kontinuum. Aber ich könnte mich eins wissen mit ihr, ihr bedingendes Zentrum sein, als bewusstes Selbst, wofern ich tief genug in meinem Wesen Wurzel fasste. Weshalb bin ich noch immer nicht so weit, wo ich doch lange schon weiß, worauf es ankommt? — Weil meine Natur noch immer undurchdrungen ist. Mein Geistbewusstsein hat sich noch immer nicht dem Körper meiner Leidenschaften eingebildet. Diese leben ihr Eigenleben weiter, unbeirrt. Ja sie wachsen, anstatt zu verkümmern, in ihrem plutonischen Reich, und jedesmal, nachdem ein geistiger Fortschritt in mir stattgefunden hat, muss ich erkennen, dass auch sie sich gekräftigt haben. Sie aber sind blind. Sie brauchen es nicht zu bleiben. Es muss gelingen, sie auf mein Tiefstes zurückzubeziehen, ihre elementare Kraft zum willigen Werkzeug zu gewinnen. Aber noch weiß ich nicht, wie solches sich bewerkstelligen lässt; noch bin ich in dem Stadium, wo das Leben im Geist, wie bei den Indern, über die Materie hinwegschwebt… Es gibt wohl noch Zeiten, da ich irdisch groß sein möchte. Allein hier, in dieser grandiosen Natur, kann keine Kleinlichkeit bestehen. Indem ich hinausblicke auf die schneebedeckten Kuppen, die sich eben jetzt im Abendglanz zu röten beginnen, entbrennt namenlose Sehnsucht in mir aus den Grenzen persönlichen Daseins ganz hinaus.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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