Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen
II. Ceylon
Kandy: Buddhistische und christliche Liebe
Überhaupt ist der faktische Unterschied zwischen Buddhismus und Christentum größer, als die theoretische Betrachtung aus den beiderseitigen Geboten und Regeln, die in so vielen wichtigen Punkten übereinstimmen, abzuleiten geneigt wäre. Die entscheidende Nuance scheint mir jener chinesische Staatsmann gut erfasst zu haben, der die orientalische Ethik von der okzidentalischen dahin differenzierte, dass jene lehre: tue keinem, was du nicht willst, dass man dir wiedertäte; diese jedoch: handele andern gegenüber so, wie du wünschest, dass sie sich zu dir verhielten. Jene sei wesentlich zurückhaltend, diese wesentlich angreiferisch. So ist es. Die Menschenliebe des Buddhisten unterscheidet sich von der christlichen durch nichts so sehr, als dadurch, dass sie kein amor militans ist. Sie ist für unsere Begriffe matt und kühl, und bei aller Verständnistiefe zu vernünftig, um groß zu wirken. Gewiss, aber wie sollte werktätige Liebe dem ein Ideal dünken, der das Individuum mit seinen Freuden und Leiden nicht ernst nimmt? Die Unbedeutsamkeit des Individuums ist dem Buddhisten seine selbstverständliche Grundvoraussetzung, nicht, wie dem Christen, der unendliche Wert der Menschenseele. Im Buddhismus hat das allgemein-indische Ideal des Detachements seine äußerste historische Verwirklichung erfahren.
Jeder echte Weise wird sich für seine Person wohl zum indischen Ideale bekennen, und mit Recht. Wessen Bewusstseinszentrum schon jenseits des Flusses der Phänomene verankert liegt, der kann seine Ideale unmöglich an der Oberfläche forttreiben lassen. Den wird Unabhängigkeit auch nie kalt und gleichgültig machen, da er auf der Stufenleiter der Wesen schon so hoch hinangestiegen ist, dass er am reinen Geben seine höchste Freude findet und zum Wohlwollen des Abhängigseins nicht mehr bedarf. Dass nun ganz Indien sich zum Ideal des Weisen bekennt, rührt daher, dass dessen Weltanschauung eben von Weisen erdacht worden ist. Aber im brahmanischen Indien gilt das Ideal des Detachements doch nur insoweit allgemein, als der Weise allgemein für den höchsten Menschentypus gilt, und dieser detachiert sein soll; den niedereren wird im Gegenteil gelehrt, dass sie sich binden sollen, da nur dank den Erschütterungen, die das Wechselspiel von Freud und Leid bedingt, ein Fortschreiten für sie zu erhoffen sei. Der Buddhismus hat das spezifische Weisen-Ideal zum absoluten, schlechthin allgemein-gültigen Ideal erhoben.
Dass er das tat, war die logische Konsequenz seiner Anatman-Theorie: wenn es kein Ich gibt, wenn keinerlei Substanz hinter dem Fluss der Bewusstseinszustände beharrt, dann hat es keinen Sinn, die Erscheinung, nach Art des Brahmanismus, auch nur vorläufig zu bejahen. Aber hier erweist es sich mit seltener Deutlichkeit, dass verfehlte theoretische Grundvoraussetzungen unabwendbar verderbliche praktische Folgen zeitigen, selbst dann, wenn sie als solche kaum beachtet werden und ihre Wirkungskraft durch Vorstellungen anderen Geistes beträchtlich abgeschwächt erscheint. Der Buddhismus hat über alle Unterschiede zwischen den Menschen in einer entscheidenden Hinsicht hinweggesehen: das hat sie nivelliert; dem hat das Caritätsideal nicht steuern können; die buddhistische Menschheit wirkt, verglichen mit der christlichen, auffallend farblos, charakterlos. Das Ideal des Detachements setzt eben der Vitalität aller, die nicht geborene Weisen sind, einen Dämpfer auf.
Der Normalmensch kann sich nur so vollenden, dass er alles Lebendige in sich durchaus bejaht; er muss tief in dieses Leben hineintauchen. Schwingt er sich vorzeitig darüber hinaus, so verkümmert er. Hierher rührt es, dass die Buddhisten von Ceylon wohl liebenswerte, seelisch gebildete, gute, mitunter sogar weise Leute, aber niemals Vollmenschen sind.
In diesem Zusammenhang erscheint denn das Christentum dem Buddhismus unbedingt überlegen. Auch dieser Glaube nivelliert. Aber wenn schon ein Ideal für alle gelten soll, dann ist das christliche des Attachements ersprießlicher. Die christliche Liebe ist alles eher als weltüberlegen; sie wurzelt, betätigt, erfüllt sich in der Welt, bejaht die Erdgebundenheit: so ruft sie alle Lebensgeister wach. Und die christlichen Grundgebote der Hilfsbereitschaft, der Arbeit zur Ehre Gottes und zum Heil der Welt erhalten dauernd in Spannung. Hierher rührt die einzigartige Effikazität des Christenglaubens in bezug auf die Gestaltung dieser Welt. Effikazität beweist nun nicht notwendig metaphysische Wahrheit, aber in diesem Falle tut sie es: wird das Phänomen überhaupt ernst genommen, dann bezeichnet die Bewusstseinslage des Attachierten nicht nur die praktischere, sondern auch die tiefere gegenüber der entgegengesetzten. Wer ernstlich lieben kann ist tiefer als der kühle Skeptiker. Nur das schlechthin Positive hat unbedingten Wert. Allerdings ist es möglich, positiv und unabhängig zugleich zu sein, aber solches gilt nie vom Gleichgültigen, denn der ist negativ. Eben das, was auf der höchsten Daseinsstufe als Freiheit zutage tritt, äußert sich auf niederen als Mut zum Abhängigsein; als Mut zum Schmerz, zum Opfer, zum Verlust. So ist der durchschnittliche Christ, welcher Freud und Leid mutig bejaht, gegenüber dem durchschnittlichen Buddhisten auf dem besseren Wege.