Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Ohnmächtige Sehnsucht

Mit dem Satze, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, hat es trotz allem seine Richtigkeit; so sehr, und auf so geheimnisvolle Weise, dass man nur leise und in seltenen Stunden davon reden sollte. Früher oder später bricht sich die Wahrheit immer Bahn. Aller Schein zergeht, alle Absichten amortisieren sich in der Zeit, alle Masken fallen ab, und die Geister gelten zuletzt für das, was sie wirklich waren. Dauernde Missverständnisse scheinen nicht möglich zu sein. Woran mag das liegen? Die Gründe, die am häufigsten angeführt werden, halten der Kritik nicht stand. Die Nachwelt ist an und für sich nicht einsichtiger als die jeweilige Mitwelt, und wieviel Überschätzen und Verkennen immer von persönlichen Motiven bedingt sein und folglich mit dem Wechsel der Personen wegfallen mag: der innere Wert als solcher wird immer nur von Ausnahmemenschen erkannt. Auch die Erklärungen, die auf statistischen Erwägungen fußen, sind nicht stichhaltig. Reichere Erfahrung, Summierung kompetenter Urteile, Vergesslichkeit, Gerechtigkeitssinn und Autoritätsglauben sind gewiss Momente, die bei der Klärung des Blickes mitspielen, aber die Klarheit recht eigentlich zu schaffen vermögen sie nicht. Denn dieselben Mittel können auch das entgegengesetzte Ergebnis herbeiführen, wie es häufig genug geschieht; das richtige erscheint mithin als Zufall. Mich deucht, die einzige nicht allzu oberflächliche Deutung des Verhältnisses ist die, dass die Menschen so wirken, wie sie sind. Was denn früher oder später unfehlbar ins Bewusstsein tritt.

Im persönlichen Leben unterliegt die Wahrheit des Satzes, dass die Menschen so wirken, wie sie sind, nicht dem leisesten Zweifel. Komödianten mögen Massen betören, schöne Lügen im Augenblick verführen: die tiefere Wirkung richtet sich ausschließlich nach dem Sein. Wer hätte nicht beim Anblick dessen gestaunt, mit welcher Sicherheit reine, ungebrochene Naturen, so vor allem Kinder und edle Frauen, durch alle Gewandungen hindurch des Menschen wahres Wesen erfassen? Hier hilft keine Pose, kein Schein; Dichten und Trachten, Wollen und Widerstreben sind ihrem Scharfblick gegenüber ohne Macht. Die supralogische Intuition, welche unmittelbar bis zum Grund des Menschen dringt, unmittelbar die Gesamtheit der Persönlichkeit aufnimmt, weiß die Natur von der Kunst, das Echte vom Unechten, das Primäre vom Sekundären zu scheiden. Selbst trüberen Seelen fehlt diese Fähigkeit nicht, selbst diese urteilen zur Hälfte unabhängig von den Worten und Handlungen, von alledem überhaupt, was sich nachweisen und darstellen lässt. Oft blicken sie tiefer, als ihr Verständnis reicht, erkennen sie die Lüge dort, wo die Wahrheit jenseits ihres Gesichtskreises gelegen ist; sie merken, dass die Äußerung nicht zum Wesen stimmt. Beim Riesen verdrießt sie das Bücken, beim Zwerge der Kothurn. Oft sehen sie sich von innen heraus zu Urteilen genötigt, die zu ihrer Weltanschauung in keiner Weise stimmen und ihren Grundsätzen von Grund aus widerstreiten. Denken wir an die Fürsten der Staatskunst, an Cäsar, Alexander, Peter den Großen: vom Standpunkt selbst der laxesten Moral haben diese mehr verbrochen als so mancher unzweideutige Schuft, und doch dürfte keiner, der ihnen begegnet war, darauf verfallen sein, sie als schlechte Menschen abzutun. Vielmehr haben sie alle gefühlt, wie wenig sie ihr Gefühl zu deuten wussten, wie sehr es ihrem Verstande widerstreben mochte, dass sie großen und edlen Menschen gegenüberstanden. Dieser Eindruck war stärker als jede Reflexion, er überwog alle Argumente. Die Größe wirkt unmittelbar, alle Vermittlungen des Denkens durchbrechend; sie schafft sich den Gesichtspunkt, von dem aus sie beurteilt werden muss, sie erzwingt sich erforderlichenfalls Dispens von der konventionellen Moral. Nicht weniger unmittelbar aber wirkt das Häßliche, das Kleine. Einer niedrigen Seele sehen wir gar nichts nach, gegen sie sind wir erbarmungslos; wo sie einmal edel zu handeln scheint, dort glauben wir ihr nicht. Es lässt sich der Fall denken, dass einer, soweit es sich um die Tatsachen seines Lebens handelt, vor dem schärfsten und strengsten der Gerichtshöfe als Heiliger bestände, und dass doch jeder, der ihn sah, in ihm den Schurken erschaute. Die Vorstellungen gehen am Sein, die Worte an den Gedanken vorbei, die Handlungen sind oft Missverständnisse. Und wie nur der den Menschen begreift, der ihn jenseits seiner Äußerungen erfasst, so ist es auch nur dies Jenseits, das sich dem Diesseits aufprägen kann.

Und wie die Nahe-, so die Fernwirkung. Es ist nicht zu viel, zu behaupten, dass die Untaten eines Cäsar mehr Segen gestiftet haben als die Wohltaten eines Caligula. Die Spuren des Episodischen verwehen, die Individuen vergehen mit ihrem Leid, mit dem Schmerz und dem Unrecht, das sie erlitten haben, über die Fehltritte des Augenblicks wächst Gras: was fortdauert, ist allein das Prinzip, das der Herrscher verkörperte. Erweist dieses sich als fruchtbar, so erscheint das Einzelne gerechtfertigt. Wir begreifen dann, dass Unrecht im kleinen manchmal geboten ist, auf dass dem Großen sein Recht werde, dass der einzelne Fehler den Wert des Prinzips nicht in Frage stellt. Dieses fortwirkende Prinzip ist aber eben das, was das Wesen des Menschen ausmacht. Was wir im persönlichen Umgang nur fühlen —, dass die zufällige Äußerung über das Sein nicht entscheidet, dass das Sein das einzig Maßgebende ist —, das stellt sich somit in der Geschichte dar; dass die Wirkung ausschließlich vom Sein abhängt, das wird hier allen offenbar. Vergleichen wir die Romantiker mit Goethe. Jene waren überschwänglich begabt, geistreich, blendend, talent- und lebensvoll, und wer damals in Jena und Weimar verkehrte, mochte bei oberflächlicher Bekanntschaft mitunter in Zweifel geraten, welche Stadt die andere an innerem Leben übertraf; um so eher als beim alternden Goethe gewisse philiströse Züge, die ihm von jeher eigen gewesen waren, recht deutlich hervorzutreten begannen. Er konnte nicht nur den Geheimrat hervorkehren, in ihm war wirklich ein gut Teil Spießbürgerlichkeit, Pedanterie und gutdeutscher Schwerfälligkeit. Dennoch wurde wohl jedem empfänglichen Gemüte binnen kurzem bewusst, wie unermeßlich hoch Weimar über Jena stand, wie wenig Goethes Sein mit seinen Mängeln, das Sein der Schlegel mit ihren Talenten identisch war. Und die Geschichte hat dieses Gefühl bestätigt. Die Romantiker haben geglüht, bis sie verzehrt waren, und dies geschah vor ihrem Tod; ihre Talente haben nicht fortgezeugt. Goethes lichte Seele hingegen wirkt je länger desto tiefer, und je tiefer desto reiner. Von seinen Mängeln spüren wir nichts mehr. Sogar seine Kunst beginnt uns klein zu dünken neben der Größe seiner gestalteten Natur. Nun aber Schopenhauer: dieser wunderbar reiche Geist, dieser Geist, der zu den umfassendsten gehört, welche Deutschland hervorgebracht, hat in tieferem Sinne überhaupt nicht gewirkt; er hat niemanden vorwärts gebracht. Das eigentlich Philosophische in ihm ist ganz steril geblieben, denn für Nietzsche war er ein bloßer Vorwand, ein Phantom des noch nicht entdeckten Selbst, für Hartmann aber hat er weniger einen Antrieb als eine Speise bedeutet. Der Weise in ihm hat keine Schule begründet, der Ethiker niemanden innerlich bewegt, und wenn wir das Ergebnis seines Einflusses vorgreifend zusammenfassen wollen, so müssen wir sagen, dass er jeden, der sich ihm rückhaltlos hingab, recht eigentlich geschädigt hat. Nur einem, welcher sich dauernd zu ihm bekannte, hat Schopenhauer nicht zum Unheil gereicht: dieser eine ist Richard Wagner. Aber bei diesem verhält sich die Sache wohl anders, als es den Anschein hat. Wagners Weltanschauung war nämlich schon schopenhauerisch, bevor er den Meister kennenlernte, ja sie war es in früheren Perioden eher mehr als dazumal, wo er mit Bewusstsein von ihm ausging. Schopenhauers Philosophie hat Wagner wenig Neues zugeführt, sie hat nur seine Grundanschauungen bekräftigt. Sie bedeutete ihm den abstrakten Ausdruck dessen, wie er selber die Welt empfand, eine Bestätigung, eine Verdeutlichung; er glaubte an die Übereinstimmung mit dem verehrten Denker und freute sich an ihr. In Wahrheit ist nun diese Übereinstimmung keine sehr weitgehende. Hätte Wagner das Verhältnis tiefer untersucht, ihm wären namhafte Unterschiede, ja unüberbrückbare Gegensätze aufgefallen. Nichts z. B. ist weniger schopenhauerisch als Wagners geschichtlich gemeinte Erlösungslehre, als seine Utopie einer sozialen Reformation: denn Schopenhauer erkennt die Geschichte nicht an, er verneint jeden Fortschritt, ja jede Veränderung. Doch darauf kam es Wagner ja nicht an. Die Philosophien großer Künstler sind nichts Unmittelbares; sie sind Abstraktionen aus ihrer Kunst, Übersetzungen aus der Gefühlssphäre, Rechtfertigungen, Begründungen, Beruhigungen. Wagner glaubte an den Philosophen, der ihn in seiner Richtung förderte, er glaubte mitunter auch das von ihm, was dieser nirgends ausgesprochen hatte. Er hat seine Abhängigkeit von Schopenhauer bedeutend überschätzt; dieser gab ihm, dem absoluten Künstler, weniger ein Prinzip als einen Stoff, wie denn dem Schöpfer alles zum Stoffe wird. Und anstatt den Musiker als Jünger des Philosophen zu bezeichnen, wäre es vielleicht richtiger, den Bayreuther Meister als Vollender des Frankfurter Denkers zu feiern: das Musikdrama bedeutet wirklich eine Art Erlösung der Schopenhauerschen Metaphysik. In der tongetragenen Tragödie wird diese in Schönheit fortleben, schuldlos und segenspendend, ergreifend und erhebend, denn das Kunstwerk steht jenseits von richtig und falsch, von fördernd und verderbend; der Wert einer Dichtung ist unabhängig vom Wert der dargestellten Idee. — Nun möchten manche das Rätsel, das ihnen Schopenhauer aufgibt, damit lösen, dass sie seine ungünstige Wirkung durch den kleinen Menschen, welcher die großen Gedanken ausgesprochen hätte, erklären: aber so einfach liegen die Dinge nicht. Schopenhauer war kein kleiner Mensch. Er war ein unharmonischer, gequälter, zerrissener, von Widersprüchen durchsetzter, von Leidenschaften durchschütterter Mensch, ein Mensch mit vielen kleinen und häßlichen Zügen; er war unvornehm, ungenerös, ohne Hoheit und inneren Adel.

Sein Gemütsleben war dürftig, seine Seele in mancher Hinsicht verkrüppelt. Schopenhauers Weltverachtung ist nicht großartig, wie die eines Sophokles, seine Menschenverachtung keine Frucht erkenntnistiefen Wohlwollens, wie die eines La Rochefoucauld: Schopenhauer schimpft auf die Welt, weil ihre Genüsse schal sind, er schimpft auf die Menschen, weil sie ihm nichts bieten, seine Bitterkeit trägt den Charakter des Ressentiments. Sein verbissener Hedonismus ist niedriger Art, sein Egoismus kleinlich, sein Zynismus oft abstoßend. Ihm fehlt jede Liebe, jede Milde, jedes Wohlwollen; die Ehrfurcht vor dem Kleinen geht ihm vollständig ab. Und doch ist Schopenhauer zu groß, als dass ihn die aufgeführten Gebrechen entwerten könnten, der Logos in ihm stand allezeit über ihnen. Wohl konnte er sie nicht bezwingen und beherrschen, er täuschte sich doch nie über sie. Sein durchdringender Verstand blickte tief in die Hintergründe seines Wesens hinein, und was in ihm häßlich war, verachtete er. Es geht ein Zug heroischer Selbstverleugnung durch die Art, wie Schopenhauer sich zu Idealen bekennt, die seiner Natur auf immer unerreichbar waren. Die Ideale des Heiligen, der Willensverneinung, der allumfassenden Sympathie, der vollkommenen Objektivität! Sie verkörpern eben das, was über seine Kräfte ging. Schopenhauers Urteil war dort, wo es Missgunst und Vorurteil nicht trüben, von vollendeter Objektivität, kristallklar und unbestechlich; so weit sein Verstand kompetierte, so weit war er auch zuverlässig. Was er aber einmal als wahr erkannt hatte, dafür trat er rücksichtslos ein. In Dingen des Geistes war er von peinlichster Sauberkeit, vor keiner Wahrheit schreckte er zurück. Seine Gedanken mochten zu seinem Wesen nicht stimmen, seine Einsichten tiefer sein als er selbst: innerhalb der Sphäre sachlichen Erkennens war ihm jede bewusste Lüge fremd. Ihm war es wirklich ernst mit dem Ideal der Heiligkeit, und wenn es ihn nicht verwandelte, wenn die Idee niemals zum Erlebnis ward, so konnte er nichts dafür. — Nein, klein war Schopenhauer nicht. Auch ohnmächtige Sehnsucht kann adeln, und Wahrhaftigkeit adelt in jedem Fall. Nur in einem sehr beschränkten Sinn kann ich das Argument vom kleinen Menschen gelten lassen: wie in der mineralischen Felddüngung die Ernte sich dort, wo die richtige Stoffmischung verfehlt ward, nicht nach den im Überschuss vorhandenen, sondern nach den in zu geringer Menge gegenwärtigen Elementen richtet, so richtet sich die Wirkung eines Geists, der sich zu keiner dynamischen Einheit durchrang, nach dem zu wenig und nicht nach dem zu viel. Schopenhauers Geist stellt eine Verbindung dar, die als solche, trotz aller Kraft der Bestandteile, trotz aller ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit, nicht wirksam zu werden vermocht hat.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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