Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Schopenhauer als Verbilder

Philosophie der Ohnmacht

Wenn ich Schopenhauers Metaphysik selbständigen Wert abspreche, weil sie keine intensive Einheit darstellt, so fälle ich damit ein Urteil, das viele entrüsten dürfte. Die Welt als Wille und Vorstellung stellt doch die Weltanschauung eines zweifellos großen Geistes dar: genügt diese Erwägung denn nicht, um sie als unbedingt wertvoll erscheinen zu lassen? Heute herrscht die Meinung, als läge die wesentliche Bedeutung eines Geists in der Eigenart an und für sich, mit der er die Welt sieht; sie wird von manchen Besten der Zeit vertreten. Dennoch ist sie irrig: die Weltanschauung eines Menschen ist als solche vollkommen gleichgültig, sie gehört ins Kapitel der Ansichten, wie deren jeder welche hat, und kann von Hause aus keinen Anspruch darauf erheben, ernst genommen zu werden. Gewiss macht es einen Unterschied aus, wer eine Ansicht äußert; was ein Tolstoi ausspricht, wird uns immer bedeutsam erscheinen. Aber das, was er sagt, braucht doch nicht wahr zu sein. Und hierauf kommt es an. Wohin gelangten wir, wenn wir an die Äußerungen großer Männer immer nur den Maßstab des Prestiges anlegten, das ihre Persönlichkeit für uns besitzt! Jedes objektive Urteil wäre damit unmöglich gemacht. Der wirkliche Wert einer Weltanschauung wird ausschließlich durch ihren objektiven Charakter bestimmt. Wer zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt ist, dem werden wir wohl gern vertrauen, aber nicht aus mystischem Glauben an die Persönlichkeit, sondern einfach weil er gute Augen hat. Wo Meister Eckhart über die Seele, Goethe über die Phänomenologie des Menschenlebens, Kant über die Grenzen der Vernunfterkenntnis spricht, dort haben wir allen Grund, mit gespanntester Aufmerksamkeit zu lauschen, denn was sie da sagen, ist wahr; sie reden von Problemen, zu deren Lösung sie berufen sind, weil ihr Geist in unmittelbar-lebendigem Verhältnis zu ihnen steht. Aber Goethes Stellung zur Unsterblichkeit ist in tieferem Sinne gleichgültig, denn sie drückt eben nur Goethes Stellungnahme aus und bietet keine Lösung des Problems; das Transzendente ging Goethe nicht innerlich an. Desgleichen ist die Art, wie sich Kant, dessen kritisches Gebäude in seinen Grundfesten für alle Zeiten dasteht, die Gottheit dachte, nur für den Psychologen, nicht für den Gottsucher von Wert. Es ist überaus verhängnisvoll, die Einsichten und die Ansichten großer Männer in einen Zusammenhang zu bringen und dem naiven Leser als Gesamtanschauung vorzustellen: denn der einzige einheitliche Gesichtspunkt, der solcher Gesamtanschauung gegenüber nicht versagt, ist derjenige der Psychologie, während das, was den geistigen Wert einer Idee bedingt, ihre eigentliche, d. h. ultrapsychologische Bedeutung ist. Wer wäre Kant, wenn seiner Kritik kein anderer Sinn zukäme als der, Kants persönliche Weltanschauung auseinanderzusetzen? Ein menschlicher Sonderfall und als solcher ohne wesenhaften Wert. Denn was dieser oder jener sich denkt, ist seine Privatsache. Bloß was alle denken müssen, wenn sie den Sinn des Problems erfasst haben, was alle schauen müssen, sofern sie sehend hinblicken, darf auf allgemeines Interesse Anspruch erheben. Von Schopenhauers Metaphysik gilt nun wirklich, was von Kants Kritik nicht gilt: sie ist wirklich nur die Weltanschauung Arthur Schopenhauers, psychologisch restlos zu begreifen; sie gehört ins Kapitel der Ansichten. Sie überragt das Individuum nicht, hat an diesem allein ihren Halt, und wen das Individuum nicht interessiert, der ist berechtigt, sie zu ignorieren. Schopenhauers Gedanken und Anschauungen mögen in noch so vielen Einzelfällen Erkenntnisse vermitteln: ihr Zusammenhang, das eigentliche System, ist nur subjektiv begründet, in Arthur Schopenhauers Person.

Infolgedessen ist es nicht möglich, an dieser Weltanschauung anzuknüpfen. Sie ist fertig, abgeschlossen, entwickelungs- und fortbildungsunfähig, durchaus am Ende. Man glaube nicht, dies liege an ihrer Vollendung: gerade die vollendetsten Schöpfungen pflegen am kraftvollsten fortzuwirken; die Genies als Vollender sind meist die gewaltigsten Initiatoren. Christus wollte wirklich nur das hebräische Gesetz erfüllen und hat doch die halbe Welt in Aufruhr gesetzt, Plato und Kant haben beide geschlossene Systeme vertreten und bringen doch in jedem lebendigen Geiste Neues zum Keimen. Die Ideen dieser Großen sind selbständige Lebensformen, sie stellen Kraftrichtungen dar, die ins Unendliche hinausweisen, an die ursprüngliche Verkörperung sind sie nicht gebunden, sondern fähig, immer wieder neue einzugehen, ohne ihr Wesen zu verleugnen. Hier ist die Seele an den Leib nicht gekettet. Bei Schopenhauer hingegen fällt der Geist mit dem Körper zusammen, seine ursprüngliche Verkörperung ist die einzig mögliche. Alle Schopenhauerschen Ideen sind einmalig im gleichen Sinne wie das Individuum; sie sind der Ausdruck eines endlichen und begrenzten empirischen Daseins; sie leben nur, insofern Schopenhauer lebt, sind mit dessen Verneinung jedes Halts beraubt. So mögen wir der pessimistischen Weltansicht beipflichten oder nicht, je nachdem wie unser eigenes Empfinden sich zum Schopenhauerschen verhält — eine überpersönliche, eigenlebige Idee, welche selbständig fortzuzeugen vermöchte, stellt sie nicht dar. Und deshalb verpflichtet sie nicht. Eine persönliche Stellungnahme ist die andere wert, da jede die notwendige Reaktionsform eines wirklichen Organismus darstellt; auf ihrer empirischen Ebene ist die Person immer im Recht. Nur ist dieses Recht der Person ohne allgemeine Bedeutung. Was mir noch so gemäß ist, braucht für keinen anderen zu gelten. Schopenhauer nun ist durch und durch Person, daher abgeschlossen, fertig, einmalig und abgegrenzt. Hier lässt sich wohl kein schärferer Gegensatz ausdenken als der zwischen Schopenhauer und Goethe: denn bei Goethe ist kaum ein Zug bloßer Ausdruck des empirischen Individuums. Alles und jedes bei ihm bezieht sich auf das formende Prinzip im Menschen, welches rastlos voranstrebt, jegliche Grenze verneinend, weit überschreitend: alles in ihm bezieht sich auf jenes überpersönliche Leben, welches das Raumzeitliche überdauert. Jeder Ansatz Goethes führt zur Steigerung des Seins, jede Idee bedeutet einen Anfang, jede Antwort umschleiert eine Frage. Wer immer vorwärts will, wird sich zu Goethe bekennen; über den kommt man nicht hinaus, denn er ist nie stehengeblieben. Bei Schopenhauer hingegen bleibt nichts offen, Ansätze zu Neuem gibt es nicht, jede Frage umschließt schon ihre Antwort. Die Wirkung kann keine den Fortschritt fördernde sein.

Und jede Wirkung vertieft sich in der Zeit. Die Strahlen, welche einmal vom individuellen Geiste ausgesandt wurden, durchdringen nicht nur schöpferisch immer weitere Kreise, so dass oft ein ganzes Geschlecht ein heimgegangenes Einzelwesen spiegelt: der tiefste Grund dieses Einzelwesens wird erst in der Folgezeit offenbar. Wer Kant wirklich war, ersehen wir jetzt erst, wo seine Bedingtheiten und zufälligen Eigenheiten gegenüber dem Kern seiner Natur an Interesse und Deutlichkeit verlieren; was Nietzsche bedeutet, werden unsere Enkel erst ermessen können. Das reflektierende Bewusstsein sieht selten rein und klar. Kein Zeitgenosse außer dem einzigen Schiller mag Goethe richtig verstanden haben; wer ihm sonst begegnete, war wohl vielleicht beeindruckt von seiner Persönlichkeit, doch was ihn im Innersten ergriff, das begriff er nicht, und was er über ihn sagte, war meistens nebensächlich und ungenau. Aber nach einigen Jahren war er vielleicht verwandelt, oder war er es nicht, so war es vielleicht sein Sohn. Das eigentlich Schöpferische in Goethe lag ganz wo anders, als seine Verehrer es zu finden glaubten. Die Zeit hebt solche Missverständnisse auf, die Wirkungen reden eine zu unzweideutige Sprache. Napoleon lebt nur mehr fort im Code Napoleon, Voltaire hat die Bühne längst verlassen, und unsere Kultur wäre undenkbar ohne einen Geist, den bei Lebzeiten nur Fischer und Zöllner ernst zu nehmen wagten.

Wer Schopenhauer eigentlich war, was seine Entelechie ist, das wird erst jetzt ganz offenbar. Seine eigentliche Bedeutung wurzelt nicht in dem glänzenden Schriftsteller, dem scharfsinnigen Denker, dem vielseitigen Dilettanten, dem grimmigen Menschenverächter, sie wurzelt auch nicht in den neuen Gedanken, um die er die Geisteswelt bereichert hat: sie wurzelt in seinem Sein, einer Daseinsform, wie sie in gleich kraftvoller Entfaltung vor ihm nicht vorgekommen ist. Von der Gegenwart aus gesehen, bedeutet er die Vollendung aller derer, die ihre Vollendung verfehlt haben.

Schopenhauer hat sehr anders gewirkt, als er es selbst erwartete. Von dem, was er erstrebte, ist nichts zur Wirklichkeit geworden. Weder hat ihn die Nachwelt als Kants Vollender gelten lassen, noch hat sie in seiner Metaphysik den Spiegel der Welt erkannt. Sein Pessimismus hat wohl zeitweilig wie eine Seuche grassiert, doch als ihre Zeit um war, blieb keine Wirkung zurück. Seine Gedanken haben manchen geblendet, kaum einen entzündet, seine Ideale niemanden aufgerührt. All das Viele, was er gewollt und betrieben hat, ist am Leben vorübergegangen. Es hat sich als das erwiesen, was es war: als Gemachtes, als Nicht-Ursprüngliches; als künstliche Konstruktion, nicht als lebendiges Gewächs. Und was nicht lebendig erzeugt ward, dringt nie ins Leben ein. Aber tief, sehr tief gewirkt hat Schopenhauers Sein, das Prinzip, das ihn beseelte, durch alle Vermittelungen hindurch hat es sich geltend gemacht: das Prinzip des unschöpferischen Willens. Unschöpferischer Wille war der tiefste Grund von Schopenhauers Natur, unschöpferischer Wille das letzte Wort seiner Weltanschauung. Schopenhauer ist sich selbst gegenüber ohnmächtig gewesen, er hat eine ganze Philosophie der Ohnmacht aufgestellt. Auf dieser Welt sei schlechterdings nicht zu wollen. Das Beispiel dieses Geists konnte nicht ohne Nachfolge bleiben; wie eine Ansteckung hat es gewirkt. Als Ansteckung, nicht als fördernde Anregung. Denn die Menschen wirken, wie sie sind; die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Schopenhauer als Verbilder
© 1998- Schule des Rades
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