Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Jesus der Magier

Feindschaft zwischen Magier und Gelehrten

Der Magier ist ein Seiender und Könnender. Deshalb ist er ganz wesentlich kein Gläubiger. Er ist aber erst recht kein Erkenner im Sinn der Wissenschaft. Dieser Seite des Problems müssen wir uns nunmehr zuwenden. Erst von ihr her werden wir zum Verständnis der positiven Eigenart des Magiers gelangen, denn die persönlichen Voraussetzungen beinahe jedes zu unserer Zeit sind nicht die des Gläubigen, sondern des Wissenschaftlers.

Seit langem war mir nichts lehrreicher als das Erlebnis, dass ein selbst mittelmäßig veranlagter Gelehrter mir die Fähigkeit zum Erkennen absprach. Veranlassung dazu war mein Anspruch auf unmittelbares Wissen um bestimmte Wahrheiten und meine Interesselosigkeit für seine logischen Ausstellungen an meinen Grundbegriffen. Und meine Verpflichtung dem gleichen Mann gegenüber erreichte ihren Höhepunkt, als derselbe mich gar erkenntnisfeindlich schalt.

Da begriff ich den vollen Sinn der traditionellen Feindschaft zwischen Magiern und Schriftgelehrten. Was jener kann oder anstrebt, ist unmittelbar Sinn zu verwirklichen. Dies setzt nun offenbar voraus, dass er seine Wahrheit nicht sucht, sondern besitzt. Der Gelehrte hingegen ist wesentlich Forscher, d. h. Suchender, und in je höherem Sinn er dies ist, desto mehr gilt für ihn das Bekenntnis Nathans des Weisen, dass es ihm mehr auf das Suchen als den Besitz der Wahrheit ankomme. Ja für ihn gilt psychologisch noch mehr: in seiner letzten unbewussten Tiefe hält er den Besitz der Wahrheit für unmöglich, und er muss es tun, weil das erreichte Ziel den Sinn seines Strebens aufheben würde. Dies ist der letzte Grund, warum dem Gelehrten Beweise mehr bedeuten als erlebte Wirklichkeit, warum herausgestellte Erkenntnis in seinen Augen das, was solche in Wahrheit allererst ermöglicht, begründet, ja warum es ihm überhaupt auf das, was er Wahrheit heißt, an erster und letzter Stelle ankommt: diese Art Wahrheit kann den realen Wahrheitstrieb nie wirklich befriedigen, weil sie gar nicht lebendige Sinn-Erfassung, d. h. organisches Assimilieren, d. h. Verstandenhaben bedeutet, sondern im System experimenteller Beweise und logischer Schlussfolgerungen verankertes äußeres Wissen. Bei diesem stellt sich die Frage des eigentlichen Verstehens nun gar nicht, was denn erklärt, warum die Ergebnisse der Wissenschaft, je weiter sie fortschreitet, desto unverständlicher werden können; man denke an die moderne Physik und die jüngsten Grundlegungen der Mathematik. Nun ist anderseits gewiss, dass Wahrheiten im wissenschaftlichen Verstand nur auf wissenschaftliche Weise gefunden und begründet werden können; und insofern diese Wahrheit eine lebenswichtige Funktion hat, sagt das Vorhergehende gegen die Wissenschaft nichts aus. Aber es erklärt zugleich, warum es zwischen lebendigem Verstehen und wissenschaftlichem Wissen keine mögliche Gleichung gibt. Es erklärt, warum die Wissenschaft den, der die Wahrheit besitzt und deshalb nicht weiterfragt, für erkenntnisfeindlich halten kann. In Hinsicht der allen vorliegenden Erscheinungswelt tut sie dies freilich nicht, weil sie diese Frage nicht stellt und aus Selbsterhaltung auch nicht stellen kann, denn jede wissenschaftliche Problemstellung setzt ein Wissen überhaupt als Ur-Können und die Möglichkeit einer realen Spiegelung einer realen Beziehung zwischen Ich und Außenwelt voraus. Aber sobald nicht augenscheinliches Wissen in Frage steht, setzt die schicksalsmäßige Gegnerschaft gegen Wahrheitsbesitz ein. Ihr Sondercharakter im modernen Westen stammt aus der Zeit, da die Kirche alle Wahrheit in Erbpacht hatte und die Wissenschaft, als deren Magd, nur beweisen durfte, was ohnehin feststand; das Ressentiment gegen jene Zeit sitzt begreiflicherweise tief.

Nun ist aber klar, dass, wenn es überhaupt metaphysisches Wissen gibt — und dies setzt jeder Philosoph voraus —, nicht allein ein Suchen, sondern auch ein Gefundenhaben seiner möglich sein muss. Und wer es gefunden hat, kann unmöglich grundsätzlich anders stehen als die katholische Kirche; d. h. die Wahrheit selbst stellt er nicht mehr in Frage, nur in der Sphäre des Ausdrucks (im weitesten Verstand) kennt er Probleme. Der muss also dogmatisch sein. Dies darf, umgekehrt, Philosophie als Wissenschaft nie, denn ihr Sinn liegt eben im Wahrheitssuchen; nur in der kritischen Abgrenzung darf sie positiv behaupten. Aber ist wissenschaftliche Philosophie denn wirklich das Höchste und Letzte? Sicher ist lebendige Gewissheit mehr als Definieren, und Zaubern-Können mehr als Beweisen. Der Schul-Philosoph ist typischerweise gerade der, welcher unmittelbar am wenigsten weiß und versteht, der also im wahren Sinn am wenigsten Erkennende: nur deshalb bedarf er so umständlicher Konstruktionen. Indem sie dem Philosophie Genannten das Monopol auf Wissen zugesteht, beweist die Moderne in Wahrheit einen nicht minder naiven Glauben an Worte, wie ihn die Griechen hegten. Die Begriffsschemen haben sich der Wirklichkeit, die unter allen Umständen deren reale Voraussetzung ist, anzupassen und nicht umgekehrt. Tatsächlich liegen nun die Dinge auf dem Gebiet des Wissens nicht anders wie auf allen anderen. Wer da weiß und kann, ist dem, der da nicht weiß und nicht kann, unbedingt überlegen. Einen Minister, Fabrikdirektor, Pfarrer oder Arzt stellt keiner unter anderer Voraussetzung an, als dass er unwillkürlich aus Erkenntnis heraus richtig zu reden und zu handeln weiß. Solange man sucht, befindet man sich in der Schule. Insofern der Mensch in wichtigen Hinsichten ewig Schüler zu bleiben bestimmt ist, nur insofern ist eine dauernde Forscher-Einstellung nicht widersinnig und der besondere Typus des Nicht-Wissenden und dennoch Lehrenden, d. h. des Forschen-Lehrenden sinngemäß; dieser lehrt eben Schülersein. Aber kein Werk eines Forschers enthält jemals substantielle Wahrheit, noch kann es dies tun. Hierzu bietet die nationale Leistung des Gelehrtenvolks par excellence, der Deutschen, ein einziges Beispiel. Was die Religion betrifft, so erscheint es, wo immer es persönlich denkt, theologisch und nicht religiös; ein vitaler Glaube wie unter Angelsachsen ist hier seltene Ausnahme. Seine nationale Metaphysik ist aber die Kritik, die formell abgrenzt und substantiell nichts behauptet. Der Forscher lebt eben auf ein Erkenntnisziel hin. Der Wissende hingegen lebt aus ihm heraus. Bei ihm äußert sich das Besitzen, genau wie beim Staatsmann, Fabrikdirektor, Arzt usw. in unwillkürlicher und unmittelbarer entsprechender Auswirkung. Der Beweis für sein Können ist bei ihr zu suchen, und nicht im theoretischen Beweis. Der Magier nun ist der aus tiefstem Wissen heraus Lebende und Handelnde. Und wenn je etwas grotesk war, dann ist es der Anspruch, dass er sich vor dem Gelehrten zu rechtfertigen habe1.

Aber der Gegensatz zwischen Magier und Gelehrtem hat noch andere Gründe, und diese müssen wir ihrerseits bestimmen, um alle Koordinaten beisammen zu haben, derer es zur genauen Situierung des Mittelpunkts bedarf. Die Religionsstifter und Weisen haben auf die Schriftgelehrten nicht nur typischerweise herabgesehen, sie haben sie gehasst. Warum? Nun, diese sind wirklich ihre geborenen Feinde, und zwar nicht insofern sie Unrecht hätten, sondern weil ihre Einstellung ihr (der Weisen) Wirken vereitelt. Reflexion beim Anhören und Aufnehmen bewirkt, dass die einfallenden Strahlen nicht eindringen können, weil sie total reflektiert werden. Deshalb verlangte jeder Religionsstifter von seinen Jüngern und Hörern reine Empfänglichkeit; er musste es tun, ganz einerlei, ob seine Lehre nun vom Buchstabenstandpunkt richtig gefasst war, oder nicht — viele, und sicher die größten, waren in dieser Hinsicht selbst wohl Skeptiker —, weil er sein Wissen nur dort übertragen konnte, wo sich die Seelen öffneten. Wie nun, wenn eine angesehene, womöglich bestimmende Körperschaft lebt, die nur die Einstellung gelten lässt, die magisches Wirken von Hause aus vereitelt? Der dessen Fähige muss sie aus ganzer Seele hassen. Dies war bei Jesus am allermeisten der Fall, weil es nie extremere Gelehrtentypen gab, als die Rabbiner. Ihnen war alle Wahrheit in der Schrift für immer endgültig fixiert, nur im Deuten durfte Eigenes sich betätigen. Nun war Jesus überdies überzeugt, dass die Schrift tatsächlich die volle Wahrheit enthielt. Desto ungeheuerlicher musste es ihn dünken, dass sie so gelesen wurde, dass ihr lebendiger Geist nicht wirken konnte; zumal ihm, als Juden, im Unterschied von Indern und Chinesen, die Denkmittel fehlten, derer es bedarf, um den Sinn dieses Zusammenhangs zu durchschauen. So schalt er die Schriftgelehrten in Ausbrüchen bitteren Grimmes Otterngezüchte. Betrachten wir nun aber den zunächst vom Magier aus gesehenen Zusammenhang von der anderen Seite, so gilt der Satz: der Sinn des Versagens des Gelehrten lebendigem Geiste gegenüber ist der, dass, wer seine Aufmerksamkeit auf den Buchstaben einer Wahrheit konzentriert, sich in der Sphäre des Ungeists verfängt. Selbst wenn der Buchstabe dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck vollkommen Rechnung trägt, vereitelt die Gelehrteneinstellung zwangsläufig die Sinneserfassung, denn ihr bleibt die gegebene Gestaltung letzte Instanz, wo sie in Wirklichkeit nur Sinnbild ist. Selbst wenn die Schrift nicht bloß zerdacht, sondern meditiert wird, vereitelt der Buchstabenglaube vollkommene Auswirkung des Sinns, denn dieser liegt wesentlich jenseits der Gestaltung. Wie schon gesagt: ein Dogma mag Gottes Wort sein, Gottes Sinn ist es ebenso gewisslich nicht, wie kein Gedanke je mit den Buchstaben, die ihn ausdrücken, zusammenfiel. Ist der gegebene Ausdruck eines Sinns vollkommen sinngemäß, dann lässt persönliche Sinneserfassung allerdings den gleichen immer neu erstehen; insofern könnte es ewig gültige religiöse Dogmen geben. Aber eben auf den lebendigen Geburtsvorgang kommt alles an, und den vereitelt Buchstabenglaube von Hause aus. So taten die Juden von ihrem Standpunkt Recht daran, Jesus nicht zu glauben, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen: den bestehenden Buchstaben hob er eben doch auf. Und dass ein Dogma nur auf dem Wege dieses Stirb und Werde leben kann, konnten die jüdischen Pfaffen ebensowenig einsehen wie später die christlichen. So war es nur natürlich, dass die Juden Jesus als Verbrecher auffassten.

1 Inwiefern vielmehr das Umgekehrte anspruchberechtigt ist, zeigt das Kapitel Der letzte Sinn der Freiheit von Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Jesus der Magier
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME