Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Von der Produktivität des Unzulänglichen

Ethik der Fruchtbarkeit

Diese Skizze belichtet mein Leben streng einseitig im Sinn des Zusammenhangs, für den ich sie schrieb. Sie gibt trotzdem ein im ganzen unverzerrtes Bild, weil das Gefühl der Unzulänglichkeit bei mir zu aller Zeit das ausschlaggebende war. Es sei nun dem Mitgeteilten noch folgendes nachgetragen, damit keiner glaube, jetzt, da ich schreibe, habe, wie im Märchen, alles gut geendet. Ich bin einer genießerischen Einstellung physiologisch unfähig. Deshalb habe ich auch bei den größten Erfolgen Glück, so wie die meisten das Wort verstehen, nie gekannt. Ich empfinde mein Leben auch jetzt, wo ich doch mehr erreicht habe, als meine Jugend je erträumt hatte, als wesentlich schwer, denn ich kann nicht stillstehen, und jedes Erreichnis lässt nur höhere und deshalb immer schwerer erreichbare Ziele an meinem Horizonte auftauchen. Ich empfinde mein Sein und Können als immer unzulänglicher. Kein Wunder: der Mensch lebt jeden Augenblick gleichsam auf der Wippe; nicht nur gibt es kein ungefährdbares Gleichgewicht für ihn überhaupt, weder nach außen, noch auch vor allem nach innen zu: je höher er steigt, desto geringere Störung kann ihm gefährlich werden. Daher die Idee, dass Majestätsbeleidigung Verbrechen ist. Dann aber tritt mir die Spannung zwischen meiner Sendung und meiner Neigung immer stärker ins Bewusstsein, je älter ich werde. Immer weniger bedeutet mir die Anerkennung der Menschen, immer mehr lechze ich nach einer Abgeschiedenheit, die kaum je mehr mein Teil sein wird. Überdies tritt das letztlich Unbefriedigende des Erdenlebens immer mehr in meines Bewusstseins Mittelpunkt. Nachdem ich mir 1924 endlich eingestand, was ich von jeher unbewusst empfunden hatte, dass die Geschichte, und also alles geistbestimmte Leben, Tragödie ist, überkommt mich immer häufiger — jetzt schon so oft, dass ich von einem Dauerzustand reden darf — die Stimmung des Prinzen Siddharta beim Anblick des ersten Kranken. Ich empfinde das empirische Erdenleben an sich als vollkommen sinnlos. Und sicher empfand ich es so unbewusst schon lange, sonst wäre ich kaum darauf verfallen, dem Leben einen neuen Sinn geben zu wollen. Trotz alledem bin ich ganz wesentlich der Optimist, für den ich in der Öffentlichkeit gelte.

Das eigentliche Zentrum meines Bewusstseins liegt oberhalb der Region, wo sich die Frage von Glück und Unglück stellt. Es tat es von jeher, sonst hätte ich mich selbst nicht so unmenschlich von Jugend auf als Gestaltungs-Objekt behandeln können. Sonst wäre mir die Unüberwindbarkeit meiner in meinen eigenen Augen äußerst unglücklichen Natur nicht von jeher irrelevant erschienen. Sonst hätte mich mein vielfaches Missgeschick verbittert, was es gar nicht getan hat. Sonst litte ich darunter, dass mir das Menschliche, worin sich das Leben der meisten erschöpft, rein nichts bedeutet. Ich berichtete vielfach von Leiden: es war nie ein Leiden, so wie es die andern verstehen, d. h. eins, das durch Ersetzung durch Freude auf der gleichen Ebene aufzuheben gewesen wäre. In der Empfindungssphäre habe ich, dank meiner Sensitivität, vermutlich mehr gelitten als die meisten. Im Innersten aber habe ich das Leiden immer bejaht, beim akutesten Schmerz als erste immer die Frage gestellt, zu welchem geistigen Ende er gut werden könne. Dem Siddharta-Erleben brachte ich von Hause aus eine andere Einstellung entgegen, als der Buddha. Ich glaube fest daran, dass das Leben einen tiefen Sinn hat, sofern man man ihn ihm gibt, und dass insofern in Buddhas Entscheidung für das Entwelten, sofern sie vorbildlich sein soll, ein Missverständnis liegt. Daraus erklärt sich denn die im großen idealistische Linie meines Lebens, die ich bisher absichtlich im Hintergrund erhielt, um den illustrativen Zweck dieser Autobiographie nicht zu stören. Äußerlich beurteilt, war ich von jeher Egoist. Unmittelbares Gemeinschaftsgefühl geht mir, vollkommen ab. Desto mehr, als ich, insofern ich meinem persönlichen Glück keinen letzten Wert beimesse, auch zum Wohl anderer nicht anders stehen kann. Aber wenn je einer es tat, dann habe ich von Hause aus aus dem Bewusstsein eines Soll heraus gelebt.

Nie habe ich in meinem persönlichen Erreichen einen letzten Wert gesehen. Ja ich habe mich von jeher nicht viel anders zu mir gestellt, wie der russische Kommunismus es zum Einzelnen tut: ich habe als Pflicht gefühlt, aus mir das Äußerste zu machen, das Äußerstmögliche mit den Gaben, die ich nun einmal habe, für die Gemeinschaft zu leisten. Eben deshalb habe ich eine Sache nach der anderen preisgegeben, bis ich das Arbeitsfeld fand, auf welchem Bestes leisten zu können ich annehmen durfte. Noch verstehe ich nicht ganz, wie dies zusammenhängt. Sollte darin mein spezifischer Ausdruck jenes Christus-Erlebnisses liegen, das Richard Wilhelm im Vortrag Kosmische Fügung in Gesetz und Freiheit so eindrucksvoll geschildert hat? In meiner Sprache kann ich bisher nicht mehr sagen, als was ich 1924 in Weltanschauung und Lebensgestaltung aussprach: die Menschheit ist nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu, gegenüber der Person, das Primäre; nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu ist das Ganze vor den Teilen da. Dieses Ganzen bin ich mir unmittelbar bewusst. Ich empfinde meine Person ganz selbstverständlich nicht als letzte Instanz, sondern als Organ eines Überpersönlichen. Nur deshalb kann ich so naiv für sie eintreten, wie ich es, trotz aller Klugheitsvorsätze, immer wieder unwillkürlich tue.

Doch wenn ich ganz aus einem Soll heraus lebe, so tue ich dies aus persönlichen, nicht sachlichen Motiven. Und damit gelange ich explizite zum allgemeinen Thema der Produktivität des Unzulänglichen zurück. Man wird bemerkt haben, dass ich mich an keiner Stelle dieser Autobiographie zum Idealismus im üblichen Verstand bekannt habe. Ich bin nun gewiss ein ausgesprochen unsachlicher Mensch. Aber darin sehe ich einen Vorzug; deshalb habe ich diese meine Eigenschaft gepflegt und nicht bekämpft. Ich glaube ganz einfach nicht, dass es wertvolle Sachen gibt. Ja ich glaube nicht, dass es überhaupt so etwas wie rein sachliches Interesse gibt. Sachlichkeit im guten Sinn bedeutet nicht un- sondern überpersönliche Interessiertheit, d. h. die persönliche Interessiertheit des tiefst-Persönlichen im lebendigen Menschen, dem folglich alle Leidenschaft der Selbstsucht eignet. Alle andere Sachlichkeit ist vom Übel, weil sie Totes über das Leben stellt. Sie eignet deshalb nur Oberflächlichen, Unproduktiven oder Feigen: solchen, die ihres eigenen Grundes nicht bewusst werden können, oder die sich einem vorherbestehenden Rahmen einordnen müssen, um sich überhaupt sinnvoll leben zu fühlen, oder die gegenüber den herrschenden Vorurteilen Angst haben, sich zur Selbstbehauptung zu bekennen. So ist denn auch kein Produktiver, von dem ich wüßte, je sachlich und auch keiner im üblichen Verstande Idealist gewesen.

Hochgesinntere Zeiten werden es vermutlich als Zeichen der Gesinnungsniedrigkeit der Moderne deuten, dass sie das Leben für eine Sache höher stellte als das Leben für die Person, und es nur vielleicht durch ein historisch unerhörtes Minderwertigkeitsgefühl entschuldigen. Wie anders stand der echte Christ, der nach seinem Seelenheil strebte! Wie anders jeder der erwiesenermaßen historisch Großen! Man kann auch anderen nur nützen, insofern man sich vollendet, was voraussetzt, dass man sich selbst vor allem ernstnimmt. Nun mag man hier einwerfen: habe ich denn überhaupt Vollendung angestrebt? Dass ich das, was ich will, noch nicht annähernd erreicht habe und schwerlich je erreichen werde, bemerke ich als selbstverständlich nur nebenbei. Aber so viel kann ich sagen: von Kind auf habe ich niemals nach anderem gestrebt. Nur eben in einem anderen Sinn, als ihn die meisten als gültig anerkennen, und durch viele Um- und Irrwege hindurch, da ich des nichtintellektuellen Teils meines Selbst bis in mein reifes Alter ganz unbewusst war und lange nicht verstand, was mich von innen her trieb. Man besinne sich auf die Eingangsbetrachtungen zurück. Jeder erwiesenermaßen Produktive und insofern Menschheitsbedeutsame war unzulänglicher als Natur, als von unzähligen Philistern gilt. So wie die Welt nun einmal geschaffen ist, sind Naturspannungen die irdischen Bedingungen der Geistesverwirklichung. Die Psychoanalyse erweist andererseits, dass die sublimsten geistigen Leistungen, von ihrer Naturgrundlage her beurteilt, Triebbefriedigungen bedeuten, und zwar die Befriedigung ganz elementarer Triebe, so derer nach Lust und Macht. Ohne dumpfe Triebkraft keine Geistesblüten. Also ist es sinnwidrig, in der Lösung von Spannungen an sich ein Ziel zu sehen. Verehren viele im in diesem Sinne abgeklärten Greis den Weisen, so hat dies sehr primitive Motive zur Ursache: sie verehren den, den sie wesentlich harmlos fühlen und der ihnen zugleich Gelegenheit gibt, auf eine das Selbstgefühl befriedigende Art ihren Vaterkomplex abzureagieren. Die erforderliche Sublimierung der Elementartriebe erfolgt nie dadurch, dass sie als solche bekämpft werden, sondern auf Grund des Gesetzes, dass auf die Dauer der Sinn den Tatbestand schafft: konzentriert sich der Mensch mit seinem ganzen Wesen auf tiefsten Sinn, nun, dann müssen die Elemente eben ihm zum Mittel dienen. Nun spielen die Elementartriebe nicht bei vielen im modernen Westen eine solche Rolle, wie bei mir, und nicht bei vielen sind sie so zäh, dass sie sich in ihrer naiven Ursprünglichkeit bis ins spätere Alter erhalten. Insofern muss ich mir wohl gefallen lassen, bis zu meinem Ende als besonders unabgeklärt zu gelten. Aber ich sehe darin keinen Nachteil, denn ich bekenne mich für meine Person ausschließlich zur Ethik der Fruchtbarkeit; inwiefern, wird der Leser aus der Lektüre des Schlusskapitels ersehen. Im übrigen aber stellt mein Fall nur die Übertreibung jedes Schöpfer-Menschen dar. Ohne Unzulänglichkeit gibt es auf Erden keine Produktivität.

Deshalb sollten, so meine ich, alle geltenden Normen fallen, die diesem Tatbestand nicht Rechnung tragen. Die Frage nach dem Wert findet ihre einzig sinngemäße Antwort auf einer anderen Ebene als der, welche die geltenden Tugend-Normen betreffen. Der geistig-seelische Wert eines Menschen bestimmt sich in der Tat ausschließlich danach, was er mit seiner Anlage erreicht; ob er sie zu höherer Sinngebung oder sinnwidrig verwendet; ob zu gutem oder zu bösem Ende. Und dies ergibt die unbedingte Gültigkeit des Imperativs, dass der Mensch unentwegt über sich hinausstreben soll; nicht auf einen menschlichen Tugendzustand hin, sondern über den Menschen in sich hinaus. Dieser, nicht der von Kant aufgestellte — denn der setzt die Erhaltung eines statischen Zusammenhangs als Wert — ist der eigentlich kategorische Imperativ. Es gibt nichts Menschliches, das geistig wertvoll wäre. Niemand hat unmenschlichere Forderungen aufgestellt, als gerade Jesus, niemand Gemüt und Erdenglück geringer geachtet als gerade er. Sehen das die meisten nicht, so beruht dies auf der List des Unbewussten, das in Jesus eben deshalb den Gott glaubt, um seine Gebote mit gutem Gewissen nicht zu befolgen. Und was gar den sanften Buddha betrifft, so beurteilte er irdische Befriedigung direkt als Übel. Hieraus ergibt sich denn weiter, dass es nur eine Sünde wider den Heiligen Geist gibt: die Trägheit. Jeder Verbrecher von Initiative kann errettet werden. Der Träge nicht. Der Träge ist der eine menschenunwürdige Mensch. Jeder Produktive war, dementsprechend, wesentlich nicht träge. Zum großen Teil war er es deshalb nicht, weil die Schwierigkeiten seiner Natur oder seines Schicksals ihn davor bewahrten. Muss aber dann dieses Unzulängliche nicht unmittelbar als göttliches Gnadengeschenk beurteilt werden? — Der Heilige Franz, der mancherlei wusste, lehrte seine Jünger Versuchungen also auffassen: den ersten besten überfalle der Teufel nicht.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Von der Produktivität des Unzulänglichen
© 1998- Schule des Rades
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