Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Spengler der Tatsachenmensch

Prophetie

Wer hat das innere Recht zur Prophetie? Nur wer das innere Recht zur Behauptung hat, dass er das Tatsachenschaffende unmittelbar wahrnimmt. Wem seiner Veranlagung nach Tatsachen letzte Instanzen sind, der kann nicht prophezeien. Mit Recht verwies Max Weber, umgekehrt, jeden Propheten — und unter einem solchen verstand er nicht nur den Zukunftskünder, sondern schon den Tatsachenbewerter, denn schon im Wert liegt ein Jenseits des Faktischen — vom Katheder des Gelehrten fort. Denn Wissenschaft hat einzig Tatsachen festzustellen und diese auf ihrer Ebene zu begreifen. Nun prophezeit aber anscheinend auch sie, z. B. die Sekunde des Eintretens einer Sonnenfinsternis: warum fällt ihr Voraussagen-Können nicht unter den Begriff des magischen Zukunftskündens? Weil hier das noch nicht in der Formel für das jetzt schon mitenthalten ist. Prophetie, so wie das Wort seit Menschengedenken verstanden wird, bedeutet, demgegenüber, ein Vorauswissen dessen, was aus der Gegebenheit an sich nicht zu erschließen ist, weil sein Seinsgrund anderswo liegt.

Gibt es nun solches anderswo? Es gibt es nicht allein — im Falle alles Lebendigen entscheidet es. Hier drückt die Erscheinung nur aus, was wesentlich jenseits ihrer liegt; im gleichen Verstande jenseits, wie die Bedeutung eines Gedankens jenseits der Buchstaben liegt, die ihn in der Erscheinung verkörpern. Aus diesem prinzipiellen Grund ist im Tatbestand auch des niedersten organischen Zustands die Notwendigkeit des nächsten nicht enthalten. Den Normen, welche man feststellen mag, fehlt immer gerade das, was der eigentliche Begriff von Notwendigkeit verlangt, dass sie die Ausnahme ausschließen. Denn das Leben befolgt nur diese Gesetze, wie der Dichter die Regeln der Grammatik; an sich selbst steht es oberhalb ihrer. Mag es sie noch so regelmäßig befolgen, keine Erfahrung steht dafür Gewähr, dass nicht ein Impuls aus dem Jenseits des Tatbestandes der Entwicklung eine neue Richtung gibt und einen bekannten Zustand einem nie dagewesenen zuführt. Ja, in solcher Neuschöpfung, nicht in der Wiederholung besteht das eigentliche Lebensgesetz, denn im Rahmen des Typischen drückt sich allemal Einziges aus. Vom Einzigen nun gibt es keine mögliche Wissenschaft; wie Poincaré sagt: il n’y a de science que du général. Der Urgrund des Lebens liegt eben in ihm, einem von innen heraus schaffenden, gestaltbildenden, gestaltvererbenden, gestaltverändernden Prinzip; dieses bedeutet, gegenüber der Außen- und Umwelt, einen selbständigen Naturfaktor. Dessen Wirken aber folgt nicht dem Kausalgesetz, es erfolgt in Funktion der ihm innewohnenden autonomen Kraft, deren Höchstausdruck wir Freiheit heißen. Hieraus ergibt sich denn, dass schon das Voraussagen rein organischer Zustände, genau genommen, ins Gebiet der Prophetie gehört. Aus Verstandeserwägungen ist mit Gewissheit nie vorauszuwissen, wie eine Entwicklung ausgehen, z. B. wie das Kind bestimmter Eltern geraten, wie eine Krankheit verlaufen, was ein bestimmter Mensch jeweilig tun wird.

Nun mag man einwerfen: aber für jede Tatsache lässt sich doch erfahrungsgemäß jedesmal eine empirische Ursache nachweisen. Die Antwort darauf lautet: gewiss. Aber das Ausschlaggebende ist, dass sich in der empirischen Ursache die Verursachung im Fall des Lebens nie erschöpft: ob diese oder jene Kausalreihe einsprang, war letztlich nicht tatsachen- sondern sinnbedingt, und kein Sinn ist je im Buchstaben als solchem aufzufinden. Von hier aus erweist sich denn die Unvoraussehbarkeit des persönlichen und historischen Schicksals nur als gesteigerter Ausdruck des allgemein organischen Sachverhalts. Da der ideelle Ort allen Lebens im Jenseits möglicher Tatbestände liegt, die es im Reich der Erscheinung nur zum Ausdruck bringen, so ist keine lebendige Zukunft von den Voraussetzungen der Wissenschaft her vorauszuwissen, und sei der Wahrscheinlichkeitskoeffizient noch so groß.

Den Verlauf des Lebens, auf welcher Ebene immer, vorauswissen kann also, wenn überhaupt jemand, der allein, der mit dem überwissenschaftlichen Jenseits der Tatsachen, dem Tatsachenschaffenden, in geistigem Kontakt steht. Ist solcher Kontakt nun möglich oder nicht? Er ist ganz selbst, verständlich möglich, weil er wirklich, d. h. weil Wissen eine Urbeziehung des Lebens ist, mit diesem mitgegeben, die sich nicht weiter ableiten lässt. Diese Urbeziehung besteht nicht nur hinsichtlich seiner Außen-, sondern auch seiner Innenseite. Ein unmittelbares Wissen von der Welt des Sinnes ist, da wir ihr angehören, genau so selbstverständlich möglich, wie ein unmittelbares Wissen von der Welt der Tatsachen. Wäre es anders, die einfache Evidenz stellte nicht das vitale Endziel auch der umständlichsten Beweisführungen dar. Und dieses unmittelbare Wissen ist auf die Sinn-Seite des eigenen Lebens nicht beschränkt. Von Seele zu Seele und von Geist zu Geist bestehen keine hermetisch abschließenden Scheidewände; deshalb ist Verstehen des Fremdseelischen, d. h. das Beziehen-Können des Tatbestandes eines anderen auf seinen richtigen Sinneshintergrund, seinerseits Urphänomen. Dies Wissen um das, was über einen selbst hinausgeht, kann nun unermeßlich weit gehen, weil die Einzelseelen, wie seit C. G. Jungs Forschungen feststeht, genau so einem kollektiven Unbewussten, einer überpersönlichen psychischen Wirklichkeit angehören, wie die einzelnen Körper der allgemeinen Körperlichkeit. Auf dem unmittelbaren Kontakt mit dieser Innenseite des Lebens beruht grundsätzlich alles Wissen, das auf Grund der Normen von Induktion und Deduktion nicht zu erklären gelingt. Seinen Normalausdruck heißt man Intuition. Wenn der Menschenkenner weiß, wie dieser oder jener sich im Gegensatz zu allem, was Logik zu folgern nahelegt, weiterentwickeln wird; wenn der Arzt zwei Kranken, deren Symptome übereinstimmen, zwei verschiedene Prognosen stellt, die sich alle zwei nachher als richtig erweisen, so hat beides zur Ursache, dass der Betreffende des schöpferischen Prinzips des anderen bewusst ward, sonach, in meiner Sprache, durch die Buchstaben hindurch den Sinn zu lesen verstand. Natürlich entwickelt sich solches Können zumeist nur an der Erfahrung; man muss erst buchstabieren lernen, bevor man lesen kann. Und da alle Sprache wesentlich artikuliert ist, womit ich meine, dass auf allen Naturebenen feste Regeln gelten, so ist ferner klar, dass auch die Intuition gut tut, sich in deren Rahmen zu bewegen. Dies ist der Grund, warum die meisten Hellseher und Propheten, von Menschenkennern und Ärzten zu schweigen, mit irgendeinem System arbeiten. Solches fasst nämlich Zwiefaches einheitlich zusammen. Nach außen zu die Erfahrung der Statistik. Diese lehrt, dass sich bestimmte allgemeine Konstellationen in der Regel auf bestimmte Weise im Individuellen auswirken, welche Erfahrung als Tatbestand am einleuchtendsten in den Ergebnissen der Astrologie zutage tritt, als Sinneszusammenhang hingegen in den Voraussetzungen des chinesischen Buchs der Wandlungen1, das alles Geschehen in eine begrenzte Anzahl Situationen einteilt, welche tatsächlich alles auf Erden Mögliche in sich zu begreifen scheinen. — Aber vor allem betreffen die Regeln des Okkultismus Innerliches: sie sind ein bewährter Weg, das wissende Unbewusste mittels richtiger Einfälle oder Zwangshandlungen auf die Fläche des Erkennbaren zu bannen. Bei allen diesen Praktiken handelt es sich aber letztlich um ein ganz Einfaches: den Kontakt mit der inneren Wirklichkeit für das Bewusstsein herzustellen. Gegeben ist diese überall und aller Zeit. Nur vermag sie — wie es nicht anders sein kann — nur der zu sehen, der dazu die Organe hat. Diese selbstverständliche Voraussetzung gilt von der Intuition genau so, wie von der Sinneswahrnehmung.

1 Der I Ging, übersetzt von Richard Wilhelm, Jena, Eugen Diederichs Verlag. Das allgemeine Problem übernormalen Wissens findet in Graf Hardenbergs Vortrag Okkulte Gesetzmäßigkeiten im Leuchter 1926 seine bisher verständnisvollste Beleuchtung.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Spengler der Tatsachenmensch
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