Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Spengler der Tatsachenmensch

Zeitalter des Gelehrten

Hiermit wären wir über das Sonder-Problem Spengler endgültig hinausgelangt und zugleich in der Lage, dank den gewonnenen Einsichten, ein allgemeineres und wichtigeres seiner Lösung zuzuführen. Das verflossene Zeitalter, das des Gelehrten, war eins des ohnmächtigen und missverstandenen Geists. Soviel davon ist auch der Allgemeinheit klar geworden, dass der Verstand samt dem, was er aus sich heraus vermag, einen gewaltigen Kurssturz erlitten hat. Doch ein Irrtum ist hier, wie dies so oft geschieht, auf Grund eines neuen und verderblicheren gestürzt worden: den Irrtum, dass der Geist sich im Intellekt erschöpft und alles Tiefe irrational, ja ungeistig sei. So sieht Spengler die Tiefe des Lebens nur in Dasein und Blut verkörpert, womit der Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwimmt. So sieht Klages im Geist nur des Lebens und seiner Tiefe Feind. Nun kann ich erst im letzten Kapitel dieses Buchs genau begründen, inwiefern der Geist ein genau so Schöpferisches sein kann, wie das Blut. Soviel aber dürfte von Hause aus als erwiesene Tatsache gelten: es war Jesu Geist, der die Welt verwandelt hat. Es war ein neuer Sinn, dessen Aufleuchten im Bewusstsein der Völker sie jeweils verjüngte. Es war sein Wachsein, aus dem heraus Buddha einen mächtigsten, heute mehr denn je wirksamen Impuls ins Leben setzte. Gewiss mussten sie alle zunächst dasein, aber ihr Dasein war eben ein Geistbestimmtes. Und dies gilt nicht minder von den politischen Initiatoren. Mussolini schafft heute dem Italienervolke eine neue Seele, d. h. er verhilft neuem Dasein zur Geburt. Wie tut er dies? Durch Sinngebung, also durch Auswirkung von Geist. Mit jeder seiner Reden, seiner Gesten fasst er den Urstoff italienischen Daseins in eine neue Form und macht ihn dadurch zum Körper eines neuen Sinns, der ihm vorher nicht innewohnte. Und wenn im Fall Mussolinis noch Zweifel möglich sind, wieviel seine persönliche Initiative bedeutet, weil er in ungewöhnlichem Grad ein Mann des Schicksals ist, so widerlegt das Beispiel Lenins alle Geistverächter desto entschiedener. Dieser war, in seiner Erscheinung, in beispielloser Ausschließlichkeit, ein kalter nüchterner Verstand. Ist alles, was unter Deutschen für tief gilt, in der Sowjet-Welt als Sentimentalität verpönt, so geht dies auf Lenin zurück. Welcher Moderne nun hätte je tiefer historisch gewirkt als gerade er? Und wird dies anerkannt — beweist dies nicht tiefste Wirklichkeit? Denn man vergesse nicht: nicht auf die abstrakte Theorie des Bolschewismus kommt es hier an oder auch nur deren Sieg, sondern darauf, dass Lenin einen neuen Menschentypus erzeugt und diesem einen bestimmten Sinn gegeben hat, dessen historische Auswirkung heute schon kaum ungewaltiger erscheint, als es die mohammedanische war nach Begründung des Araberreichs. Hier, wenn irgendwo, hat Geist Blut souverän determiniert, und zwar nicht im Sinn des Spenglerschen Entweder-Oder, sondern in dem, dass Geist sich als das eigentliche Prinzip des geschichtlichen Lebens erwies. Ja, hier hat bewusst antimetaphysischer, alles Transintellektuelle negierender Geist Wirkungen erzielt, die metaphysische Wirklichkeit unmittelbar beweisen, wo man sich bei den meisten bewusst Tiefes Wollenden fragen muss, ob sie nicht bloße Träumer und Schwärmer sind.

Wie reimt sich das alles zusammen? Der Schlüssel zum Problem liegt im folgenden. Das verflossene gelehrten-bestimmte Zeitalter erkannte allein den herausgestellten Geist, den in Theorien, Begriffen, Programmen objektivierten, als Geist an. Dies hängt mit dem in der Vorrede über seinen Glauben an den abstrakten Menschen Gesagten zusammen. Bei seiner Einstellung war es ihm auch unmöglich, Geist anders zu verstehen. Es konnte überintellektueller und doch geistiger Tiefe bei einem Menschen, wo solche vorlag, nicht gewahr werden, denn auf der Ebene herausgestellter Erkenntnis ist sie nicht zu fassen. Es konnte vor allem in sich Geist als Tiefe nicht erleben, denn dies ist nur möglich, wo er unmittelbar von innen heraus wirkt: sobald die Aufmerksamkeit von der Herausstellung gebannt ist, ist der subjektive Kontakt mit dem eigenen schöpferischen Geiste unterbrochen. Da kann der Mensch seine Tiefe allein auf anderem Wege realisieren: nicht durch das Ethos des Schaffens, sondern das Pathos des Erlebens.

Selbstverständlich ist dies ein möglicher Weg, zur Tiefe in Beziehung zu treten. Es ist der kreatürliche, der weibliche Weg, und in geistigem Zusammenhang der des Spezifisch pathischen Menschen. Insofern ist es der spezifisch deutsche Weg. Dem Deutschen eignet von allen Völkern Europas das geringste Ethos und das größte Pathos. Er ist nur in Ausnahmefällen im gleichen Sinn von innen heraus selbstbestimmt, wie der Spanier, der Engländer, der Franzose. Er bestimmt sich selbst typischerweise nur mittelbar, von Herausstellungen aus, wie wissenschaftliche Richtigkeiten, soziale Wünschbarkeiten, konstruierte Ziele, Pflichten. Entsprechend steht ihm das Sachliche höher als das Persönliche, versteht er kaum, wenn je, wie rein Persönliches als solches geistig bedeutsam sein kann. Erkennt er letzteres im Fall des Christentums an, so tut er es glaubend, nicht verstehend: sobald er denkt, scheint ihm entscheidend, was das Christentum nun letztlich, abstrakt betrachtet, ist, nicht welch lebendiger und folglich undefinierbarer, nur an seinen Wirkungen erkennbarer Geist es beseelt. Dieselbe Tiefe, die aus den großen Sinngebern der Geschichte unmittelbar wirkt, kann der Deutsche nur in pathischer Einstellung realisieren. Entsprechend ist ihm Erleben — ein in andere Sprachen unübersetzbares Wort — seines Lebens subjektiv letzte Instanz. Und da der Mensch gewohnt ist, von sich auf andere zu schließen, so misst er den Grad vorhandener Tiefe am Grad vorhandenen Erlebniswerts, dessen gänzlich unbewusst, dass nur die Tiefe möglichen Erleidens so zu messen ist, nicht die des Tuns. Deshalb bestimmt ihm weiter die Fähigkeit zum Leiden den inneren Rang, drum sieht er im Dichter den höchsten Menschen schlechthin, deshalb gilt sein Volk allgemein als das der Dichter und Denker: sie bezeichnen allerdings den Höchstausdruck pathischer Mentalität. Doch hiermit ist über das Erleben des Deutschen noch nicht alles gesagt: gemäß den Kompensationsgesetzen der Psyche trägt es extrem subjektiven Charakter. Dies muss es tun, weil sein Aktives sich typischer, weise in der Sphäre des Unpersönlichen und Sachlichen erschöpft. In nicht-pathischer Einstellung ist er die Unpersönlichkeit selbst. So ist der Deutsche als Erlebender wesentlich Lyriker. Nun sichert ihm gerade diese seine Einstellung einen Vorsprung vor allen anderen Völkern, wo einmal lyrische Begabung vorliegt. Sie kann zu gewaltigen Schöpfungen führen, wo ein Großer mittels ihrer Metaphysisches erlebt; daher das unmittelbar kosmische Pathos von Luther, und Bach; daher die in Europa unerreichte Tiefe der größten deutschen Dichter und Mystiker. Allein im Fall der meisten vermittelt besagte Einstellung kein Tiefenerlebnis. Die meisten kennen Erleben einzig in Form des Fühlens schlechthin, und dies ist meist ohne jeden tiefen Hintergrund. Gefühle als solche sind nämlich wesentlich Spiegelungen, d. h. sekundäre Bildungen; gleiche können ebensowohl eine Magenverstimmung zur Ursache haben wie Metaphysisches. Insofern enthält die überwiegende Mehrzahl der deutschen Bücher, die tief zu sein beanspruchen und voll sind der großen Worte und Superlative, im selben Sinne Oberflächlicheres, als die unpraetenziöseren realistischerer Nationen, wie die tief-sein-wollenden Bücher von Frauen meist oberflächlich sind. Denn die reale und objektive Tiefe entscheidet über den Tiefenwert, nicht ihre Spiegelung in der Gefühlssphäre; so hat auch die Tiefe des Erlebens seinen Wertmaßstab vom Standpunkt der anderen nicht daran, was es dem Erlebenden persönlich bedeutet, sondern daran, welche reale Tiefe in Frage steht. Vielleicht macht ein Hinweis auf den Grenzfall Rainer Maria Rilkes den Zusammenhang am schnellsten deutlich: dieser ist kein wahrer Mystiker. Wirklich erlebt er nur die Wucht der ihn bedingenden Empirie, die er alsdann in schönen Gefühlen spiegelt. Aber er erlebt sie tief, bis zu einem gewissen Punkt durchschauend: deshalb kann der persönlich Tiefe Metaphysisches in ihn hineinlesen.

Subjektivist im hier skizzierten Verstande war nun der Deutsche von jeher. Daher die Nationaleigenschaften der Innigkeit, der Sinnigkeit, des wertbetonten Gemüts. Daher seine Vorliebe für Romantik in jeder Form, seine Hochschätzung der Stillen im Lande. Dem ausschließlich ethisch Eingestellten erscheint jeder Wirker bedeutender, als der ethisch Unzulängliche, der in seinem Kämmerlein noch so tief erlebt. Zweifelsohne ist es auch wahr, dass pathische Einstellung einem Volk den Weg zur äußeren Größe sehr erschwert, denn immer wieder stolpert es da über seine eigene Freude am Erleiden. Immerhin ist diese Einstellung andererseits der Seinsgrund alles Menschheitsbedeutsamen deutscher Größe; und auch dem Volk als Ganzheit hat sie bis vor kurzem nie geschadet, wie seine typischen Unzulänglichkeiten denn keinem Volk in normalen Zeiten schaden: eben auf Grund ihrer ist es ja im kosmischen Zusammenhange richtig eingestellt. Da kam die Zeit der Hochentwicklung des Intellekts. Beim Deutschen konnte sie nicht umhin, zu extremer Unpersönlichkeit und Sachlichkeit zu führen und damit einerseits wohl zu extremer Tüchtigkeit im Reich der Sachen, aber andererseits auch zu extremem Kontaktverlust mit seiner eigenen Tiefe, soweit diese auf geistigem Wege zugänglich sein kann. Da wurde denn Subjektivität kompensatorisch in einem Grade Trumpf wie nie vorher. Dürrste Gelehrte vernimmt man seither sich in letzter Instanz auf ihr Gefühl berufen. Das Irrationale wird gerade von Verstandesmenschen auf nahezu fetischistische Weise verehrt. Jede geistige Selbstbestimmung wird als Intellektualismus perhorresziert. Es wird als feststehend angenommen, dass kein Großer je wusste was er tat, dass alles bei ihm dumpfes Müssen war. Die augenscheinliche Tatsache, dass alle wahrhaft Großen, deren Aufgabe nicht war, Geist herauszustellen, desto mehr dessen Verkörperer waren, wird absichtlich übersehen, die christliche Lehre, dass das Wort Fleisch werden kann, nicht mehr verstanden. Dass Gott im deutschen Sinn wahrscheinlich nichts erlebte, als er die Welt erschuf, fällt keinem ein. Daher denn der gleichsinnige Erfolg der Antipoden Spengler und Klages. Für jenen ist das Blut, das schlechthin Ungeistige, Natürliche, das letzte Wort. Für diesen das erdhafte Urerleben des Pelasgers.

Dies alles ist zu verstehen und zu erklären, wie denn wohl alles zu verstehen und zu erklären ist. Aber wenn diese Entwicklung als Fortschritt bezeichnet wird, dann bedeutet sie ein Bekenntnis zur Sünde wider den Heiligen Geist. Was den Menschen, prinzipiell gesprochen, zum Menschen macht, ist nicht sein Pathos, sondern sein Ethos, die mögliche Selbstbestimmung im kosmischen Zusammenhang. Und die gelingt nur aus dem Logos heraus, dem Prinzip aller Initiative. Wer im Pathos das Letzte und Höchste sieht, entscheidet sich damit für das Objekt im Gegensatz zum Subjekt. Liegt hier nicht der tiefste Grund dessen, warum der Deutsche heute wieder einmal Objekt der Weltgeschichte ist? Warum er allgemein als unfreiester Mensch wirkt? Erklärt sich hieraus nicht, warum er sich in seiner jüngsten Gestaltung, wo immer er handelte, immer wieder in Widerspruch zum Sinn der Dinge setzte? Wenn ihm nach innen zu Erleben an sich letzte Instanz war, so waren es nach außen zu die Tatsachen. Der Tatsachenmensch ist aber der oberflächliche Mensch par excellence. Er weiß nichts vom schöpferischen Sinn. Und das Urbild des deutschen Tatsachenmenschen verkörpert Spengler.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Spengler der Tatsachenmensch
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME