Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Kant der Sinneserfasser

Kunst der Fragestellung

Worauf Kants methodische Bedeutung beruht, habe ich im Schopenhauer-Aufsatz gezeigt: sie beruht, kurz wiederholt, auf seiner einzigartigen Kunst der Fragestellung. Seine einzigartige philosophische Bedeutung hat aber zum Grund, dass die Fragestellung als solche das Eine ist, worauf bei ihm alles ankommt. Bei Kant gelingt es überhaupt nicht, die Lehre aus deren Teilinhalten und Sonderfeststellungen abzuleiten, die er zum überwiegenden Teil, wie jeder andere, aus dem Wissensschatz der Menschheit übernahm. Dagegen folgt sie notwendig, wie aus einem Guß, aus seiner Problemstellung, wie ich diese auf S. 118 skizziert habe. Dank ihr erscheint das Bekannteste, ja Selbstverständlichste in neuem Licht; sie bezieht es in einen neuen Sinneszusammenhang hinein. Ein solcher nun stellt unter allen Umständen gegenüber der Materie, die er sich einbildet, ein Apriori dar. Nun kann man einwenden: insofern war jeder Philosoph, der einen Standpunkt persönlich, aus innerem Müssen, vertrat, absolut originell — originell im gleichen einzig wesentlichen Sinn, in dem jeder lebendige Mensch ein Originelles ist. Aber bei Kant liegen die Dinge, dank ihrer besonderen Qualifiziertheit, dennoch einzigartig. Keiner vor ihm hat seine Fragen so durchaus richtig gestellt, d. h. so sinngemäß sowohl auf das reale erkennende Subjekt und dessen Wollen hin als auf die reale zu erkennende Natur. Keiner hat die richtige harmonische Proportion zwischen Sinnes-Ober-, -Mittel- und -Grundtönen von seinem besonderen Standort mit gleicher Meisterschaft erkannt und durchgeführt. Und nun erst kommt die Hauptsache: keines Standpunkt war je früher so gewählt, dass er tatsächlich, nicht nur der Absicht nach, das ganze Gebiet, das er überschauen sollte, zu überschauen erlaubte. — Was das bedeutet, wird eine Analogie am besten verdeutlichen. Warum gilt Bachs Musik als Fundament aller späteren überhaupt? Weil sie die Urbeziehungen zum Ausdruck bringt, welche aller abendländischen Musik als deren Logos spermatikós zugrunde liegen; jene Urbeziehungen machen diese, kantisch gesprochen, allererst möglich, deshalb gelten sie zeitlos fort. Andererseits erschöpft sich Bachs Musik, wie keine andere, im Ausdruck ihrer. Nun, nichts anderes gilt mutatis mutandis von Kant. Seine Philosophie umreißt die Ureinstellung des erkennenden Menschen im kosmischen Zusammenhang genau so zeitlos wahr, wie Bachs Musik die Ur-Beziehungen der musikalischen Seele verkörpert. Dank diesem einen Umstand hat Kant den entscheidenden Schritt in der Geschichte der Philosophie getan. Denn die Frage nach der Ureinstellung des erkennenden Menschen im Weltall hat keiner vor Kant exakt, wenn überhaupt, gestellt. — Damit ist denn auch gesagt, dass Kants ganze Philosophie im Reich des reinen Sinnes fußt. Sie ist von ihrer Materie genau nur insoweit abhängig, wie jeder Geist einen Körper braucht, um sich auszudrücken.

Hiermit wären wir denn zum allgemeinen Zusammenhang, den dieser Aufsatz behandelt, zurückgekehrt. Wenn Kants Philosophie der Ebene angehört, die wir ihr zuerkannten, dann muss sie wesentlich unsterblich sein, d. h. in einem qualitativ anderen Sinn als die anderer theoretischer Denker. Die Analogie mit Bach wird auch hier das schnelle Verständnis erleichtern. Bach ist in einem qualitativ anderen Sinn unsterblich als alle anderen Musiker, weil das Werden und Vergehen, das Gesetz dieser Wandelwelt, die Beziehungen, die seine Musik verkörpert, nicht tangiert. In jeder neuentstehenden Form lebt wiederum Bach als deren tiefste Seele, was sich weder von Beethoven noch gar von Wagner behaupten lässt. Insofern ist Bachs Fortleben sogar unabhängig von der Geltung seiner eigenen Musik. Als Sondererscheinung ist diese zeitbedingt wie nur irgendeine, sie gehört durchaus dem 18. Jahrhundert an; ihre konkrete Stimmung ist unablösbar von der von Spätbarock und Rokoko. Doch ihr Unsterbliches klingt durch das Sterbliche so unmittelbar hindurch, dass kein Verstehender bei diesem je verweilt.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Kant der Sinneserfasser
© 1998- Schule des Rades
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