Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Von der Produktivität des Unzulänglichen

Gewaltmensch

Der Mensch erlebt sich selbst unmittelbar als zeitloses Wesen. Sein Älterwerden spürt er nur mittelbar, zuerst zumeist an anderen, welche Einschränkung desto uneingeschränkter gilt, als jeder, unabhängig von den Jahren, ein wesentliches Alter hat: der eine war von jeher vierzig oder sechzig, der andere blieb immerdar jung. So habe auch ich mich von je als das gleiche Wesen gefühlt, das ich noch heute bin. Meine Begabung, meine Grundanlagen hatte ich von Hause aus. Die nachweisliche Veränderung im Lauf der Jahre beruht allein auf dem, was äußere Umstände und schöpferische Einsicht und Wille aus ihnen machten. Meine Grundanlage — die übrigens im von Olga von Ungern-Sternberg ausgearbeiteten Horoskop (abgedruckt im Astrologischen Kalender 1925, Theosophisches Verlagshaus, Leipzig) mit seltener Klarheit im Bild in die Erscheinung tritt — war nun von jeher vielfältig und widerspruchsvoll. Als Keyserling, d. h. als Angehöriger eines Geschlechts, das seit nunmehr sieben Generationen mit seltener Vererbungskraft einen Geistestypus perpetuiert, dessen Höchstausdruck mein Großvater Alexander1 war, von dem sein Jugendfreund Bismarck erklärte, er sei der einzige Mensch gewesen, vor dessen Verstand er Angst gehabt hätte, und dessen letzte Sublimierung der Dichter Eduard verkörpert, war ich verstandesklarer und dabei musischer Geistesmensch. Aber meine Urgroßmutter väterlicherseits, die Gattin des Begründers des russischen Finanzwesens, Grafen Cancrin, war eine Murawjoff, aus altem Bojarengeschlecht tatarischen, der Sage nach auf Dschingis Khan zurückgehenden Ursprungs. Hatte sie schon meinem Vater, der ein vollkommener, an manche Gestalt in Tolstois Krieg und Frieden gemahnender russischer Grandseigneur war, die geistige Form gegeben, so war ihr Vererbungseinfluss bei mir noch ausgesprochener: sie vermachte mir einerseits die russische Seelenart, andererseits manches von der besonderen inneren Struktur, welche die mongolischen Eroberer charakterisierte.

Doch nicht genug dieser disparaten Elemente: meine Großmutter mütterlicherseits, welche den Typus meiner mütterlichen Familie (Pilar von Pilchau-Audern) bedingte, eine mächtige Frau, war die letzte dem Familien-Höchstmaß entsprechende der Ungern-Sternberg von Großenhof, eines gewalttätigen, phantastischen und zugleich sehr weltkundigen Herrengeschlechts, von dem nicht wunderbar erscheint, dass es zuletzt noch den Mongolen-Condottiere Roman hervorbrachte. Mein Grundtypus soll der der Brüder dieser Großmutter sein. Diese drei Vererbungsreihen ergaben von Haus aus ein ganz uneinheitliches, widerspruchsvolles und extremster Spannungen fähiges Gebilde. Da auf dem Gebiet des Lebens der Sinn den Tatbestand schafft und nicht umgekehrt, so war das, was ich als einziges Wesen von Haus aus mittels dieser Anlagen auszudrücken versuchte, bei der Erscheinung natürlich ausschlaggebend, so dass das Gen-Mosaik von Hause aus ein besonderes, aus seinen Komponenten als solchen nicht ableitbares Bild ergab. Dies war denn ein wesentlich zwiespältiges, polar geordnetes. Ich war einerseits das Zarteste vom Zarten, außerordentlich impressionabel und suggestibel, weiblich aufnehmend, liebevoll, vertrauensselig und anpassungsfähig, intuitiv verstehend, andererseits ein vulkanischer Gewaltmensch von primitiver Vitalität und Eroberers und Herrscherinstinkten. Und da eine Synthese so entgegengesetzter Elemente nur spät, wenn überhaupt gelingt, so war Unbefriedigtheit mit meinem Zustand schon in meiner frühesten Kindheit mein Grundgefühl. Ich fühlte mich einerseits, in meiner Zartheit, den ungebrochenen Herrenmenschen unterlegen, die meine mütterliche Verwandtschaft repräsentierten, andererseits, als animalische Kraftnatur, den durchgeistigten Keyserlings. In meiner Kindheit hatte ich vor letzterer unmittelbar Angst: sie erschien mir immer wieder im Sinnbild eines mich von rückwärts überfallenden Löwen. Ganz sicher und unbefangen fühlte ich mich nur die allerersten Jahre, da mein Verstand noch schlief. Nachdem er erwachte, wurden Unterlegenheitsbewusstsein und Unsicherheitsgefühl mein Normalzustand, sobald ich überhaupt nachdachte, zumal ich in dem, was Kinder sonst in diesem Alter können, unbeholfen war; ich blieb bis über die Pubertätsjahre hinaus wie uninkarniert, ohne direkten Kontakt mit der Realität. Um mein Unterlegenheitsbewusstsein zu verdrängen, dachte ich möglichst wenig nach, lebte ich so unbewusst, als einem von Hause aus scharf beobachtenden und schnell verstehenden Kinde möglich war, recht eigentlich in den Tag hinein. Ich wuchs, ohne anderen als gelegentlichen Verkehr mit Altersgenossen, hauptsächlich von gezähmten Tieren umgeben — mein frühestes Talent war das eines Hagenbeck —, bewusst allein auf Jagd bedacht, als urwüchsiges Naturkind auf.

In meinen Tagträumen sah ich mich als Forschungsreisenden, wie ich denn Stunden damit verbrachte, mir selbst meine künftigen Reisen zu erzählen. Mein ungewöhnliches zeichnerisch-bildhauerisches und mein musikalisches Talent bildete ich nicht aus, da sie mich nicht interessierten. Intellektuelle Probleme gelehrter Art interessierten mich erst recht nicht. Alles Abstrakte, Systematische, Pedantische perhorreszierte ich. Meine eigentliche Anlage verstand ich weder selbst, noch wurde sie von meiner Umgebung verstanden, ohne dass dieses Nichtverstehen jedoch, solange ich zu Hause blieb (ich wurde bis zu meinem 15. Jahre, als ich nach dem Tode meines Vaters in die Unterprima des russischen Gymnasiums zu Pernau eintrat, von Hauslehrern erzogen), zu irgendwelchen Konflikten führte. Dies wurde anders, als ich, knapp fünfzehnjährig, abnorm kindlich verblieben, in die Gesellschaft 18- und 19 jähriger Klassenkameraden eintrat. Diesen fühlte ich mich auf Grund meiner Zartheit, die jede Aggressivität als Roheit empfand und solcher völlig wehrlos gegenüberstand, sowie meiner Kindlichkeit überhaupt, so unbedingt unterlegen, wie jene denn zu dauernden, bis dahin ungeahnten Leiden Anlass gab, dass ich die Vogel-Strauß-Politik aufgab und mir vornahm, mich selbst zu wandeln; dass solches möglich war, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Als wäre es heute, sehe ich den Vierzehnjährigen einen skeptischen Kameraden darüber aufklären, wie ich selbstverständlich anders werden könnte, wenn ich nur genau einsähe, was zu ändern sei. Nun ging ich mit Feuereifer daran, das als minderwertig Empfundene niederzukämpfen und die Seite meiner Natur allein zu entwickeln, die sich meiner neuen Umgebung gewachsen erweisen würde.

Jetzt wollte ich durchaus nur der Kraftmensch sein, der, wie ich fühlte, unter anderem in mir lebte, doch dank der sonstigen Zartheit meines geistig-seelischen Organismus, zugleich der hochkultivierten Umwelt meines Elternhauses und meiner bisherigen Abgeschnittenheit von allem Verkehr mit derben Altersgenossen, unentwickelt geblieben war. Jener Kraftmensch warf sich denn ein Jahr nach absolviertem Gymnasium (inzwischen hatte ich ein Jahr in Genf studiert) in der primitiven Form des fressenden, saufenden und lärmenden Urburschen für eine Weile zum Alleinbeherrscher meines bewussten Lebens auf. Von 1898 bis 1900 war ich zweifelsohne der ungeistigste und brutal-animalischste unter Dorpats Korpsstudenten, der gegebene Vorwurf für Jordaenssche Gemälde, ein Ausbund primitiver Gesundheit und roher Kraft. Dementsprechend wurde ich meinem damaligem Kreis auch anerkannt, und meine Beglückung darob war groß. Aber dieses Glück währte nicht lange. Kaum ein Jahr, nachdem ich Korpsstudent geworden war, traf mich in einem Zweikampf ein Stich, der mir die Mammalia interna durchschnitt, mir nur dank der seltenen Regenerationskraft meiner damaligen Physis nicht das Leben kostete und dieser in seinen Folgen eine solche Schwächung mitteilte, dass eine Zentrierung meines wertbestimmten Daseins auf den Gewaltmenschen-Pol auf Jahre hinaus materiell unmöglich wurde. Dieser äußere Umstand leitete meinen Umschwung zum Geistesmenschen ein. Wie es die Erkenntnis der Überlegenheit meiner derberen Schulkameraden gewesen war, die den Gewaltmenschen in mir zur Geltung beschworen hatte, ebenso geschah es mit dem Geistesmenschen. Wieder wurde ich anders, weil ich’s aus Einsicht heraus so wollte. Freilich operierte diese damals beinahe unbewusst. Ich verstand nur sehr unvollkommen, was in mir vorging; ich konstatierte wohl bloß, dass ich des wilden dörptschen Treibens plötzlich überdrüssig geworden war, und zog daraus die Konsequenz. So verließ ich die heimatliche Universität nach anderthalbjährigem Verweilen und zog, ein knapper Zwanziger äußerlich, in Wahrheit aber viel jünger als mein Alter, nach Heidelberg, um dort die in Genf begonnenen naturwissenschaftlichen Studien wieder aufzunehmen und fortzusetzen. Ich wurde dort in wenigen Wochen so radikal anders, als ich vorher gewesen war, dass meine Freunde aus Dorpat, die mich bald darauf dort besuchten, mich kaum wiedererkannten.

1 Man lese sein Lebensbild in Briefen, zusammengestellt von seiner Tochter Baronin Taube, Berlin, Vereinigung wissenschaftlicher Verleger.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Von der Produktivität des Unzulänglichen
© 1998- Schule des Rades
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