Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Jesus der Magier

Magie und Technik

Jetzt sind wir soweit, die substantielle Seite magischen Wirkens verstehend tiefer und schärfer zugleich zu fassen; dazu brauchen wir nur das zuletzt Erkannte und Ausgeführte mit den Betrachtungen des Eingangs zu verknüpfen. Jesus konnte die Welt neu einstellen, sahen wir, insofern er sich an die Keime wandte und nicht das Fertige. Hieraus ergibt sich zunächst eine neue Ursache der Feindschaft zwischen Magier und Gelehrten, die ich gar nicht erst ausführlich zu erörtern brauche, weil ihr Sinn auf der Hand liegt. Der Gelehrte vertritt den fertigen kristallisierten Geist. Vom Fertigen her trachtet er alles Neue zu begreifen und es dem traditionellen Wissenszusammenhange einzugliedern. Eine Verschiebung der Voraussetzungen des Verstehens kommt für ihn nicht in Frage. Demgegenüber liegt dem Magier nur daran, gerade neue Voraussetzungen zu schaffen. Er will in den Seelen zeugen. Er will ihnen eine neue lebendige Einstellung geben. Er will sie zu etwas verwandeln, was sie vorher nicht waren. Sein Ziel ist immer Leben und nie Theorie. Leben nun entsteht immer nur aus noch Plastischem heraus. Daher die traditionelle Feindschaft jedes reinen Magiers gegen alle fertige Gestaltung überhaupt. Jeder unter diesen hat irgendwie das Kind dem Erwachsenen als Vorbild vorgehalten, heiße er Jesus oder Laotse oder auch Georg Groddeck1. Warum? Erstens und allgemein, weil das, was das Kind in der hier gemeinten Hinsicht vorm Erwachsenen auszeichnet, nicht seine Torheit, sondern seine Weisheit ist, das heißt die vollkommen richtige Eingliederung im kosmischen Zusammenhang. Lebt das Kind rein in seiner Sphäre, tritt es zu nichts in Beziehung, dem es nicht gewachsen ist, dann ist sein Leben ein Ausdruck schöpferischen Geists, wie es das keines Genius je in höherem Grade war. Groddecks Es-Dogmatik vertritt hier Gleiches wie die Lehre Jesu, nur in ärztlichem Zusammenhang, vom Zustand des psychologisch durchschauten Erwachsenen her und ohne ausdrückliche metaphysische Voraussetzungen. Zweitens und vor allem aber darf das Kind als Vorbild gelten, weil es nicht starr und fertig ist, sondern durchaus schöpferisch.

Hiermit gelangen wir denn zum Verständnis der Lehre aller tiefen Magier, auf welche sie selbst das allergrößte Gewicht legten, nämlich dass man das Ich preisgeben soll. Das Zentrum, aus dem das Kind lebt, ist nicht das Ich, sondern dessen überpersönlicher Hintergrund. Das Ich erwächst in seiner festen Form erst später, als besonderes Organ. Und beim buchstäblich Erwachsenen — was kein Produktiver je war — ist es vom Es, seinem Urgrunde, abgespalten. Aber alle schöpferischen Kräfte leben nach wie vor in diesem. Sie bilden, sie heilen, sie bedingen Wachstum und Niedergang, sie beschwören das Schicksal, soweit es vom Einzelnen abhängt. Also ist klar, dass sich das Ich nur dort nicht sinnwidrig auslebt — was denn zwangsläufig zu Irrtum, Krankheit oder Unheil führt —, wo es so wirkt, als bestände keine Scheidung zwischen Ich und Es, oder wo das Gefährliche der Scheidung durch Einsicht aufgehoben wird. Letzteres kann nun in mehreren Hinsichten geschehen. Die eine ist die von Groddeck vertretene: lass das Ich fahren, vertraue dem Es, und alles gerät dann ganz von selbst zum besten. In ärztlichem Zusammenhang hat Groddeck wohl grundsätzlich recht. Aber aus diesem tritt er in seinen allgemeinen Lehren natürlich heraus. Und da begegnet es ihm, dass er dasselbe lehrt wie Laotse: Es gibt nichts Gutes, nichts Böses; Gesundheit und Krankheit sind einander wert. Ja zuletzt: wer sich also alles Ichwahns entäußert, der wird so stark, dass alle kommen müssen, bei ihm eine Stütze zu finden2. Diese Fortbildungen seiner Arztlehre klingen bei Groddeck wenig überzeugend, weil er, als Skeptiker und Zyniker, nicht den Mut zu seinem eigenen metaphysischen Glauben hat. Den nun besaß Laotse. Kein Wunder: was bei Groddeck seiner Veranlagung nach nur Glaube sein könnte, war bei ihm unmittelbares metaphysisches Wissen. Dessen Sinn sind wir jetzt in der Lage einzusehen.

Zweifelsohne steht hinter dem Ich, nach innen zu gesehen, ein Geistig-Wirkliches, dessen Wissen und Macht jenes weitaus übertrifft. Dieses Wirkliche reicht über das Individuum hinaus und wurzelt im Kosmos. Gelingt es dem Menschen, mit diesem eins zu werden, so kann sich daraus nur Steigerung, nicht Schwächung ergeben. Aber da es gerade das Gefüge des Ich mit seinen Sonderfähigkeiten ist, welches das Einswerden hindert, so ist freilich ein Lassen des Ich zum Mehrwerden die erste Voraussetzung. Aber was vom Ich gilt, gilt irgendwie von aller Gestaltung. Überall hindert sie das Neuwerden. Deshalb musste der reinste und einseitigste unter den Magiern, Laotse, ganz selbstverständlich aller Gestaltung feind sein, vom Gelehrtenwissen bis zum Staat, vom wissenschaftlichen Erkennen bis zum Handeln. Voraussetzung magischen Wirkens aus letzter Tiefe ist eben, dass keine Kraft im Ich-Kreis haften bleibt. Ist sie in diesem einmal gefangen, dann gelangt sie nimmer über ihn hinaus. Nun gibt es wirklich kein einziges Problem auf der Ebene der Erscheinungswelt, das sich anders als vom Ich her stellte, oder auf dieses hin. Vom Nicht-Ich-Standpunkt gibt es kein Freiheitsproblem, keine Wissenschaft, die einen Sinn erfüllen könnte, keine Ordnung, welche mehr als Fessel wäre. Weiter aber erfolgt schöpferisches Wirken nicht von Ich zu Ich, sondern von Unbewusstem zu Unbewusstem, denn in diesem liegen alle Bildekräfte, wo das bewusste Ich ein ausgestaltetes Organ ist ohne Wandlungsfähigkeit aus eigner Kraft. Nichts anderes besagt die chinesische Lehre, dass nur die Keime sich beeinflussen lassen. Hiermit hätten wir, scheint mir, die letzte Antwort auf die Frage, warum jeder Weise die Schriftgelehrten hasste. Deren Gesinnung ist der des Magiers genau entgegengesetzt. Da soll gerade alles beim alten bleiben, aufs Alte zurückbezogen werden, handele es sich um das vorherbestehende System der Wissenschaft oder einer bestimmten Philosophie oder eines Kirchenglaubens. Da ist nicht Neuschöpfung, sondern letzte Bestimmung Ziel. Und jetzt wird uns mit einem Male klar, warum alle intellektualisierten Epochen unschöpferisch waren. Es liegt gar nicht an der Wachheit als solcher. Es liegt gar nicht am Verstehen an sich selbst. Es liegt daran, dass, wer den Akzent auf die Klarheit des Definierten legt, ganz andere Kategorien anwendet, als der geistig Schaffende. Das Neuwerden gelingt immer nur vom Undifferenzierten her. Sich entdifferenzieren kann allerdings jeder, indem er lange genug nicht reflektiert, sondern meditiert, mit anderen nicht diskutiert, sondern sich mit ihnen polarisiert, denn solche Praktik löst die Differenzierungen zeitweilig auf, die Psyche wird erneut protoplasmatisch, mit allen Tugenden des Keimplasmas begnadet. Nie aber kann einer schöpferisch wirken, in sich und anderen, so lange er vom Differenzierten aus wirkt oder auf dieses hin. Und damit gelangen wir zur Abgrenzung zwischen Magie und Technik.

Magie im höchsten Sinn setzt ein Lassen des Ich voraus, da alle Bildekräfte im Jenseits seiner leben. Andererseits ist alles Leben magischen Charakters, d. i. unmittelbare Sinnesverwirklichung. Da finden wir denn, dass Technik sich von der eigentlichen Magie dadurch unterscheidet, dass sie Magie vom Ich aus bedeutet. Es ist durchaus nicht wahr, dass Technik nichts Innerliches betreffen könne: die ganze Ich-Sphäre beherrscht sie der Möglichkeit nach; in jeder ichbeschränkten Welt ist ihre Macht suprem. Der Politiker, der Heerführer, Ingenieur, der Journalist, der Gelehrte, der künstlerische Virtuose — innerhalb der Ich-Sphäre können sie alle, prinzipiell gesprochen, Magier sein. Sie können auch, formell betrachtet, im selben Sinne schöpferisch erscheinen wie echte Magier; auch sie schaffen vom Undifferenzierten aus neue Differenzierungen. Jeder Einfall ohne Ausnahme quillt aus dem Jenseits des Auskristallisierten hervor; so gibt es wohl auch keinen, der bloß Routinemensch wäre; einen noch so geringen Grad von Spontaneität setzt schon die richtige Anwendung des Erlernten voraus. So gibt es auch keinen absoluten Verstandesmenschen. Warum gilt dann nun bloß technische Leistung als minderwertig neben der inspirierten? Die Antwort haben wir: die Ich-Welt ist die Welt des grundsätzlich Fertigen. Sie ist die Welt der Dinge, der Sachen, der Logik, der Institutionen, der Begriffe, der Dogmen, der Beweise, der Tugend, des Rechtes, der Moral, kurz aller der Normen und Normiertheiten, welche ein für alle Male da sind und nach denen man sich richten kann. Der letzte Satz enthält denn den Schlüssel zum ganzen Problem: richtet man sich nach dem Einfürallemaligen, so findet nie eine Wandlung der Voraussetzungen statt; nie eine Wandlung des schöpferischen Menschen selbst. Wesentlich schöpferische Techniker sind darum insofern immer mehr als Techniker; sie stehen innerlich über ihrem Können. Technik im Sinne bloßen Könnens schafft demgegenüber, am Maßstab echter Schöpfung gemessen, nie anderes als Ersatz. Da ersetzt Definieren Sinneserfassung, Virtuosität Inspiration, Reklame innere Vollmacht, Zivilisation Kultur.

Der Magier höchster Art nun wirkt aus dem Jenseits des Ich heraus. Sein Urquell ist der kosmische Sinn. Aus ihm heraus aber entsteht das völlig Neue, auf das die Regeln des Alten keine Anwendung finden. Von da aus werden Sünden nicht gesühnt, sondern vergeben. Da tritt Begnadung an die Stelle des Verdienstes. Da verliert alle Moral und alles Recht seine Geltung, weil sich die Basis möglichen Urteilens verschiebt. Da müssen alle Verstandesbegriffe unverrichteter Dinge umkehren, weil sie nur Altem und Fertigem gewachsen sind, und dies zwar immer erneut, auf jeder Etappe neu. Da wird das Einmalige der großen Persönlichkeit, der großen Kunst, der großen Liebe, der großen Erleuchtung, der großen Umkehr geboren. Da gelangen dem Ich überlegene Kräfte zur Erdgestaltung und -wirkung. Und da verliert schließlich die ganze Frage nach Technik ihren Sinn. Alle ganz großen Magier hielten wenig von Regeln, während Magie geringen Grads an die Einhaltung von Regeln fest gebunden erscheint; so nicht nur die des Okkultisten, Astrologen, Kabbalisten usw., sondern auch die des Tugendhaften, des anständigen Menschen. Jesus war nicht Asket, Buddha kein Yogi, Laotse jedes Gesetzes Feind; Johannes Müller perhorresziert die Frömmigkeit, Groddeck ist Gegner aller wissenschaftlichen Medizin. Nun ist freilich jede Wirklichkeit und jeder Weg normiert; auch höchste Freiheit manifestiert sich nur mittels des Gesetzes. Aber in wem das Ich durch Überpersönlich-Wirkliches überwunden ward, in dem wird auch alle mögliche Ich-Technik überwunden. Dem ist das Ich nicht mehr letzte Instanz, sondern nur Ausdrucksmittel. Im Einswerden mit den kosmischen Bildekräften gewinnt der Mensch oberhalb der Erdnormen persönlich seinen Mittelpunkt. Da schafft er im großen so, wie es die Entelechie bei der leiblichen Metamorphose tut: ein embryonales Gebilde nach dem anderen löst sie auf; alle bestehenden Gesetze erledigt sie durch das Eingreifen neuer. Diese neuen aber bedeuten im Falle jedes großen Magiers, von der Erde aus betrachtet, solche nicht des Beharrens, sondern der Wandlung. Buddhas Regel hatte nicht die Perpetuierung des Mönchtyps zur wahren Absicht, sondern positives Entwelten. Christi Lehren sollten nicht Christen an die Stelle der Heiden setzen, sondern die Menschen vom Menschlichen erlösen. Und von hier aus berühren wir zugleich das Herz der Tragik aller Magie. Wir haben implizite drei Stufen von Magiertum unterschieden: den Techniker, welcher vom Ich aus Neues schafft; den Magier im üblichen Verstand, der unter strenger Befolgung von Normen Ungewöhnliches wirkt; zuletzt den Inspirierten, der das Gesetz der Erde aufhebt. Was ist es da mit der Kirche?

Sie bedeutet erstens ein technisches Institut, um eine bestimmte, vom Ich her bestehende Ordnung zu erhalten. Sie will zweitens einen magischen Kraftquell bedeuten, welcher der technischen Ordnung Einflüsse aus anderen Sphären einflößt. Im letzten aber ist sie des Gotteswissens feind, denn die Gnade verleugnet jedes System und jede Anstalt. Daher die gleichmäßige Kirchenfeindschaft Jesu, Buddhas und Laotses, jedes echten Religionsstifters überhaupt. Dies hat aber niemals gehindert, dass aus der Feindschaft gegen eine bestehende Kirche jedesmal eine neue, zunächst noch strenger geregelte entstand. Es ist eben unmöglich, Geistiges anders als durch Technik festzuhalten. Es ist andererseits unmöglich, es wirklich festzuhalten. Es ist endlich erforderlich, dies immer wieder zu versuchen, ja vielleicht sogar zu lehren, dass es möglich sei, denn nur so bleibt Geist im Leben überhaupt stetig am Werk. Aber buchstäblich festhalten lässt sich Geist niemals, denn er lebt nur in unaufhaltsamer Bewegung. Auch ein absolut wahres Dogma ist nur insofern wahr, als es im Erlebenden jeweils neu entsteht. Das Stirb und Werde ist erst recht des Geistes-Lebens Gesetz. Aus dem hier geschilderten tragischen Kreislauf gibt es kein Entrinnen. Jeder echte Religionsstifter wollte nur das Eine: den Menschen wandeln und damit die Gesetze aufheben, die ihn bisher banden. Eine Kirche aber kann nur auf Grund unverbrüchlicher Erden-Gesetze bestehen.

1 Groddeck ist Psychoanalytiker und Arzt, vor allem aber eine der überlegensten (wenn auch zugleich exzentrischsten) Persönlichkeiten seiner Zeit. Seine bisher besten Arbeiten enthalten die Leuchter 1925 und 1926. Sonst hat er das Buch vom Es und den Roman Der Seelensucher geschrieben. Den besten Einblick in die Werkstatt seines Geists gewährt jedoch seine Halbmonatsschrift Die Arche (zu beziehen Baden-Baden, Werderstr. 14).
2 Vgl. Groddecks Betrachtungen in Nr. 18 der Arche (vom 11. 1. 1926) S. 19 ff.
Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Jesus der Magier
© 1998- Schule des Rades
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