Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Von der Produktivität des Unzulänglichen

Künstler

Ich studierte jetzt Geologie, dem Vorbild meines Großvaters folgend, und zwar, allem äußeren Anschein nach beurteilt, als Selbstzweck; in dieser Wissenschaft machte ich im Frühjahr 1902, auf Grund einer Studie über den Gloggnitzer Forellenstein, auch meinen Doktor; ja, par excès de zèle vollendete ich im gleichen Jahr sogar noch eine zweite geologische Arbeit: eine Untersuchung des Eruptivgebiets von Südtirol, des späteren österreichisch-italienischen Kriegsschauplatzes, dessen geologische Karten z. T. von mir herrühren. In Wahrheit begann, mit meinem Abgang von Dorpat, eine Periode ähnlicher nichtwissend-harrender Vorbereitungszeit, wie sie das unschuldige Mädchen vor der Ehe durchlebt. Seitdem ich mich einmal für den Geistesmenschen in mir entschieden hatte, war dieser der Herr nicht zwar meines Bewusstseins, wohl aber meines Unbewussten, und dieses lenkte mich auf Ziele hin, die auch nur zu verstehen meinem damaligen Bewusstsein alle Organe fehlten. Dieses bestimmte nur den äußeren Rahmen meines Strebens. Ich führte redlich aus, was ich mir vorgenommen hatte. Aber von Monat zu Monat deutlicher spürte ich dabei, dass ich irgend etwas anderes sollte, was ich noch nicht kannte, und dementsprechend vorfühlend, suchend und tastend tat ich mich nach allen mir nur irgend zugänglichen geistigen Richtungen um. Allein kein Vorbild, dem ich in Heidelberg begegnete, kein sachliches Ziel, von dem ich dort Kenntnis gewann, löste entsprechendes Streben in mir aus. Philosophie, wie solche an der Universität betrieben wird, sagte mir von allen Disziplinen am allerwenigsten zu. Meine Natur, so fühlte ich, verlangte anderes, als was Wissenschaft ihr bieten konnte; dass ich in dieser viel leisten würde, erschien mir auch immer unwahrscheinlicher, und mit dem Augenblick, wo dieses mir bewusst wurde, ließ mein Interesse sehr erheblich nach. Aber ich wusste nicht, was meine Natur verlangte; denn unter geistigen Menschen waren nur Gelehrte bisher in meinen Gesichtskreis eingetreten, wie denn auch meine geistige Familientradition eine ausgesprochen gelehrte war.

Da las ich Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. Der Eindruck war gewaltig. Auf einmal ward mir klar, dass, wenn ich dem Menschen, der dies geschrieben hatte, begegnen könnte, ich bald entdecken würde, was aus mir zu machen sei, denn ihm als erstem unter allen, die ich gelesen, fühlte ich mich verwandt. Recht eigentlich um ihn kennenzulernen, ging ich, um meine Studien zu vollenden, nach Wien. Ein glücklicher Zufall in Gestalt eines väterlichen Freundes — des Indologen und Religionsforschers Leopold von Schroeder — brachte mich gleich am ersten Tag mit dem aus der Ferne Bewunderten zusammen. Die Wirkung des lebendigen Eindrucks war stärker noch, als ich sie erhofft hatte. Schwärmerisch verehrend, in weiblicher Hingebungsfreudigkeit wandte ich mich dem um ein Vierteljahrhundert Älteren zu. Er vergalt es mir mit verständnisvoll und weise lenkender Freundschaft. Die Wirkung von Chamberlains dauerndem Einfluss war wunderbar fruchtbar. In seiner mir in vielem verwandten Natur glaubte ich mich zum erstenmal so, wie ich wirklich war, im Spiegel zu sehen. Richtig erkannte ich an ihm jedenfalls meine Künstlernatur und fand so zum erstenmal ein Verhältnis zu meiner eigenen besonderen Physiologie, die ich vorher nicht besser verstanden hatte, als meine Umgebung es tat. So lernte ich auf einmal positiv bewerten, was ich bisher als minderwertig empfunden hatte: das Weiblich-Zarte in mir, meine Impressionabilität und Emotivität, kurz alles, was gegenüber dem Ideal des Herrenmenschen sowohl als des überlegen klaren Gelehrten, der mein Großvater Alexander Keyserling war, als Minus wirkte. Hierin bestärkte mich das Bild eines anderen, mehr gleichaltrigen Freundes, Rudolf Kassners, einer der tiefsten wenn auch schwerstverständlichen Geister dieser Zeit, mit dem ich zwei Jahre lang schier jeden Nachmittag verbrachte. Er war der erste Schriftsteller, der auf das Schreiben den Hauptwert legte, den ich sah. Durch ihn erwachte in mir der Trieb, selbst schreiben zu lernen. Aber im Falle Kassners sowohl als Chamberlains war zweierlei charakteristisch für mich: beiden gab ich mich zunächst, ohne jede Kritik, ganz hin. Von beiden wollte ich innerlich, dass sie hoch, unerreichbar hoch über mir ständen. Und an beiden wirkte besonders fruchtbar auf mich, dass sie mich offen unterschätzten. Dies war zumal bei Kassner der Fall, der mir immer wieder sagte, schreiben würde ich niemals können; ich solle doch lieber Diplomat werden.

Hier erwiesen sich drei Unzulänglichkeiten auf einmal produktiv an mir: erstens mein wirkliches Nichtkönnen, zweitens mein Glaube an der anderen absolute Überlegenheit, drittens deren Nicht-Glaube an die Erfüllungsmöglichkeit meines Ehrgeizes; denn der reizte meinen Selbstvervollkommnungstrieb zur höchsten Anspannung. Mein vollkommenes mich-öffnen leitete denn, wie es nicht anders sein konnte, einen richtigen organischen Befruchtungsvorgang in mir ein. Zunächst vollzog sich in mir eine wahre Umwertung aller Werte und damit eine Umverlegung aller Akzente. Mein Bewusstsein zentrierte sich ebenso ausschließlich im künstlerischen Versteher, wie in Dorpat im Gewaltmenschen; nur jenen wollte ich überhaupt noch gelten lassen. Die Vitalisierung, welche diese Verschiebung in mir einleitete, war außerordentlich. Das Minderwertigkeitsgefühl verschwand, schlug in stolzestes, zuversichtlichstes, im Ausdruck oft maßloses Selbstbewusstsein um. Meine Lebenskraft, die am geschwächten physischen Körper kein entsprechendes Ausdrucksmittel mehr fand, bildete sich nun der akzeptierten Eigenart meines Geists und meiner Seele ein. Sachlich bin ich von Chamberlain — denn um ihn vor allem handelt es sich — schon 1905, mit dem Abschluss des Gefüges der Welt vollkommen abgerückt, und Adolf Harnack hatte von seinem Standpunkt wohl recht, als er später einmal meinte, jener sei mir nicht mehr wie eine Hebamme gewesen: eben dank dieser bin ich als geistiger Mensch geboren worden, hier liegt der springende Punkt; deshalb bewahre ich ihm, der als Mensch viel größer ist, als seine Werke zum Ausdruck bringen, unversiegliche Dankbarkeit. Meine Wiener Zeit — von 1901 bis 1903 — war eine solche schwindelnd schnellen Fortschreitens. Seitdem ich meine Wesensart zu verstehen glaubte und deren schöpferisches Zentrum ahnte, gewann alle Sonderbetätigung Sinn für mich. Nun drängte es mich, die Vielfalt meiner Anlagen, deren meiste mir bis dahin gleichgültig geblieben waren, auszubilden. Was ich auf das hin, was ich später wirklich wurde, gelesen und gelernt, geschah zum allergrößten Teil während dieser zwei Jahre. Mit meinem eigentlichen Studium hatte das ja nichts zu tun. Mir wurde vielmehr schon in Wien das Eine, entscheidend Wichtige klar, dass ich, so wie ich war, nicht auf sachliche Tüchtigkeit, sondern auf persönliche Vollendung hinzuzielen hatte. Und an der Wirkung dieser Einsicht wiederum wurden mir die zwei Grundwahrheiten zum erstenmal bewusst, welche später die Leitmotive meines gesamten Schaffens darstellen sollten: dass Erkenntnis Erlösung ist und auf die Einstellung eines geistigen Zusammenhanges alles ankommt. Bevor ich wusste, was ich sollte, war ich richtungsloses und folglich auch unfruchtbares Chaos. Kaum hatte ich mich einsichtsgemäß eingestellt, da wurden meine Energien schöpferisch.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Von der Produktivität des Unzulänglichen
© 1998- Schule des Rades
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