Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Von der Produktivität des Unzulänglichen

Wissen und Verstehen

Ich war zunächst grenzenlos glücklich. Doch erwies sich die in Wien begonnene Periode als eine leichte nur die knappe Zeitspanne hindurch, in welcher ich einfach sachlich zulernen und meine Anlagen technisch ausbilden musste, um innerlich weiterzukommen; in der ich folglich voll beschäftigt war. Gar bald verschob sich mein Problem. Vom Werden und Aufnehmen galt es, den Weg zum Sein und Schaffen zu finden. Den aber habe ich, so wie ich ihn meinte, nicht allein erst überaus spät gefunden — das Suchen und Nichtfinden als solches ward mir bitterschwer; denn mein vulkanisches Temperament erkannte Zeit nie an, verstand in jenen frühen Jahren noch schwerer, als es dies heute tut, warum meine blitzartigen Intuitionen und Entschlüsse nicht ebenso schnell ihre vollbefriedigende Verwirklichung fanden. Seitdem ich Dorpat verlassen hatte, dominierte, wie gesagt, der hingebungsfreudige Einfühler in mir. Seitdem ich Chamberlain begegnet war, spitzte sich dieser Tatbestand zu so absoluter und ausschließlicher Bejahung des sensitiven Poles meines Wesens zu, dass ich das allein noch in mir anerkannte, was ich in Dorpat verachtet hatte und umgekehrt, und sogar alle reinen Fehler, die mit meiner Künstlernatur zusammenhingen, als höchstwertig bejahte. Ich ward ebenso extremer Ästhet, wie ich vormals extremer Korpsbursche gewesen war, absichtlich unfähig in allen praktischen Fragen, aller eigentlichen Tätigkeit feind, sogar auf meine damalige Nervenschwäche stolz. Äußerlich führte ich, soweit es irgend ging, das Leben des Literaten, wie ich ihn in Wien und München kennengelernt hatte, an letzterem Ort in bester Verkörperung in meinem Onkel Eduard Keyserling, zu dem ich damals in vertrautester Beziehung stand. Doch der vitale Gewaltmensch in mir war deshalb nicht tot. Er wirkte desto energischer in meinem Unbewussten; er rächte seine Nichtbeachtung, indem er immer wieder gewaltsame nervöse Störungen und Zusammenbrüche herbeiführte. Was konnte ich da tun, ohne meine einmal eingenommene Einstellung preiszugeben? Ich antwortete ihm mit Brutalisierung, welche ihrerseits eine wenn auch noch so geringe Abreaktion des Condottieres bedeutete und mich insofern befriedigte. Jene führte ich so weit, dass ich während der Jahre meiner Vorbereitungszeit — sie dauerten bis 1911 — aus bewusstem Entschluss auf ein eigentlich persönliches Leben, bis auf kurze Episoden, in wachsendem Maß verzichtete. Dies geschah von da ab, wo ich den Erkenntnis- oder genauer Verstehenstrieb als Dominante meines wertvollen Wesens endgültig anerkannt und zugleich verstanden hatte, dass hier der Angelpunkt meiner Selbstbestimmung lag. Denn nachdem ich in Wien zunächst nur Künstler überhaupt werden wollte, hatte ich bald erkannt, dass ich kein Dichter war, sondern gemäß einer Bestimmung Kassners, die mich damals sehr frappierte, dessen Gegenbild, ein Platoniker; dass ich also nicht Dichter im Gegensatz zum wissenwollenden Gelehrten, sondern Versteher — schon damals wurde ich mir des Gegensatzes von Wissen und Verstehen, der später zur Gründung der Schule der Weisheit im Unterschied von der Universität führte, bewusst — zu werden hatte.

Sollte nun Verstehen überhaupt mir Lebensaufgabe sein, dann musste ich zu vollkommenem Verstehen gelangen. Diesen hochmütigen Anspruch stellte ich mir selbst von vornherein. Eben deshalb, weil Vollendung höheren Grades auf diesen Gebieten mir mit Recht unerreichbar schienen, hatte ich ja seinerzeit die Ausbildung meines plastischen und musikalischen Talentes abgelehnt. Andererseits hatte ich nicht umsonst Naturwissenschaften studiert: mir war selbstverständliche Voraussetzung, dass alles Können an empirische Anlagen gebunden ist. So setzte ich mir denn zum Ziel, meinen geistigen und seelischen Organismus zu einem so vollkommenen Ausdrucksmittel umzubilden, dass er letztendlich alle nicht objektiv unüberwindlichen Schranken des Menschentums zu überwinden fähig würde. Das musste, so glaubte ich, möglich sein. Andererseits: wie sollte ich dies anders erreichen, als indem ich alles in mir unterdrückte, was die Objektivität meiner Erkenntnis beeinträchtigen konnte? Ich durfte meinem persönlichen Ich kein Monopol auf meinen geistig seelischen Organismus einräumen, bis dass dieser allem möglichen Irrtum entwachsen war. So erlaubte ich mir jahrelang nie, persönlich Stellung zu nehmen, so gab ich mich umschichtig den Einflüssen, die ich gerade für förderlich hielt, bis zur Verfallenheit hin und erschien immer wieder, da kein Gegenstand mir etwas bedeutete, sobald ich ihn innerlich assimiliert hatte, und dies meist schnell geschah, als treu- und charakterlos. Denn schon damals, lange bevor er sich selbst verstand, ging mein Instinkt von der Arbeitshypothese aus, dass vollkommene Erkenntnis wie jede andere vollkommene Leistung nichts anderes bedeutet, als den Ausdruck des richtigen Verhältnisses zwischen realem Selbst und realer Außenwelt, welches Verhältnis nur der gewinnen kann, der sich, bis dass er den Reifezustand erreicht, allen Erfahrungen und Einflüssen gegenüber vollkommen geöffnet verhielte, jeder vorzeitigen Kristallisation eben damit vorbeugend; so würden sich andererseits die absolut richtigen Einsichten, Begriffe und sonstigen Ausdrucksformen des jeweiligen persönlichen Lebens auf die Dauer von selbst bilden. Schon damals wusste ich, dass diskursive Einstellung die eine ist, die inneres Wachstum hindert: diskutieren, d. h. Krieg führen kann man nur von behaupteter Basis aus, wo doch für den Strebenden alles darauf ankommt, eine höhere Basis zu gewinnen. So ward das eine Verbot der späteren Schule der Weisheit — das Diskussionsverbot — zum einen negativen Imperativ meiner Entwicklungsjahre, und ich kann heute bestimmt behaupten, dass ich’s an erster Stelle dessen strikter Befolgung verdanke, wenn ich nie stehengeblieben und unter jedem Einfluss weitergekommen bin.

Auch der Geist ist eben ein Organismus, der befruchtet werden muss, um über sich hinauszuwachsen. So schaute ich denn auch den Idealmenschen bereits in meiner Wiener Periode so, wie ich ihn später im Epilog zum Gefüge der Welt geschildert habe: über allen nur möglichen Ansichten erhaben, alles unmittelbar und zugleich vollkommen wissend, weil er zum Weltall in notwendiger, direkter, lebendiger Beziehung steht, welches Bild meine spätere Lehre der unauflöslichen kosmischen Situation (sieh das Kapitel Weltanschauung und Lebensgestaltung in Wiedergeburt) vorwegnimmt; wie ich denn ebenso früh von dem überzeugt war, was erst im Reisetagebuch seinen theoretischen Ausdruck fand, dass Erkenntnis vor allem einen entsprechenden Zustand voraussetzt und durch äußerliches Lernen überhaupt nicht zu erreichen ist. Jetzt ist wohl klar, weswegen die betreffende Periode, trotz allem äußeren Anschein, eine gar schwere war. Am Ziel meines Strebens gemessen konnte ich nicht umhin, meinen realen Zustand als äußerst minderwertig zu empfinden. Auf ein fernes Ideal allein bedacht, konnte ich mit der Gegenwart nur unzufrieden sein, und so musste mir auch alle innere Sicherheit fehlen, da ich den Gleichgewichtszustand, den ich hatte, nie als wertvoll anerkannte. Nach außen zu zeigte ich mich natürlich, um mich zu sichern, entsprechend arroganter. Und mein wesentliches Selbstbewusstsein war auch groß genug. Vorhin schrieb ich, ich hätte mich von je als zeitlos identisch mit mir selbst gefühlt. Dies gilt auch im Sinn des Werts. Mit 20 Jahren war ich naiv erstaunt darob, dass mir die Stellung bestritten wurde, die man mir heute auf Grund meiner Leistung zuerkennt; während ich mich heute instinktiv darüber wundere, wenn meine Leistung irgend jemand überrascht: von jeher bin ich doch, der ich bin. — Ja, diese nach-Wiener-Periode war sehr schwer. Ich blieb, ein Asket absonderlicher Art, den Gewaltmenschen in mir täglich und stündlich niederkämpfend, gute 10 Jahre lang wesentlich passiv und aufnehmend eingestellt, was immer ich zeitweilig tun mochte. Ich traf keinerlei Entscheidung, weder innerlich noch äußerlich. Mit vollendeter Konsequenz, allen Anfechtungen, die nicht ausblieben, zum Trotz, suchte ich das zu sein, was die meisten perhorreszieren: vollendet charakterlos. Denn ich wollte nicht fertig werden, nicht auskristallisieren, bevor die letzten Möglichkeiten meiner Anlage sich voll entwickelt hatten. Während dieser Jahre behütete mich jener Dämon, welcher von jeher, meiner Person gegenüber ein anderer, aus der Tiefe meine Lebensrichtung bestimmte, mit solcher Pedanterie, dass ich grundsätzlich nicht mehr tun durfte als ein Pensionsmädel (obschon er mich wesentlich anderes tun hieß) und umgekehrt mancherlei tun musste, was sonst nur halsstarrige Pflichtmenschen oder tollkühne Abenteurer sich selber zumuten. Es war ein gewaltsam einseitiges Leben, das ich führte, so universelle geistige Erfahrungen es ermöglichte. Der Mensch, der ich vor der Beeinflussung durch Chamberlain gewesen war, blieb vollkommen verdrängt. Eine aktive Einstellung gestattete ich mir erst wieder, als ich erkannte, dass mein Ausbildungsprozess vollendet war: dies erfolgte ab 1911, im Schaffen des Reisetagebuchs.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Von der Produktivität des Unzulänglichen
© 1998- Schule des Rades
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