Schule des Rades

Hermann Keyserling

Menschen als Sinnbilder

Von der Produktivität des Unzulänglichen

Prozess der Entstehung

Meine neue Aufgabe war die, persönlich hineinzuwachsen in den so lange und sorgsam vorbereiteten Geistes- und Seelenleib. Den primitiven Menschen meiner Kindheits- und Jünglingsjahre hatte ich verleugnet; seither war ich in persönlichem Sinn nicht eigentlich mehr dagewesen; dementsprechend konnte ich keine richtig persönlichen Erlebnisse und auch keine persönlichen Überzeugungen haben. War ich, der von Hause aus persönlichste und insofern gläubigste Mensch, zu einer Art von Skeptiker geworden, so lag dies daran. Ich war jahrelang nur ein Medium gewesen für vom Standpunkt meines Bewusstseins fremde Einflüsse in oder außer mir. Jetzt galt es, mich persönlich zu verkörpern. Und da ich als anderes denn als infantiles Ich überhaupt noch nie, so wie andere, verkörpert gewesen war, so bedeutete dies nicht weniger, als dass nun erst die Stunde meiner eigentlichen Entstehung schlug. Ja, jetzt erst sollte, durfte der Prozess in mir beginnen, der bei fast allen Menschen in den Zwanzigern seinen Abschluss findet. Über den Weg zerbrach ich mir gar nicht erst den Kopf. Er ergab sich ganz selbstverständlich aus meiner Künstlerschaft, zugleich der Wachheit meines gesamten Wesens, die mich jede Wandlung bewusstgewollt vollziehen ließ. Ich erkannte sofort, dass der Weg zur Entstehung in meinem Fall nur über eine Geistesschöpfung führen konnte; dass ich mein Sein zuerst herausstellen musste, um es alsdann für mich persönlich zu erobern. Bald wusste ich auch, in welcher bestimmten Form dies am besten glücken musste: indem ich mich der Veränderungen der Erscheinung, die eine Weltreise selbstverständlich in mir bewirken würde, als Ausdrucksmittel für mein persönliches Wesen bediente. Indem ich mich auf dieses geistige Ziel konsequent eine Zeitlang innerlich einstellte, würde, das fühlte ich, mein Wesen am sichersten und schnellsten von seinen Ausdrucksmitteln ganz Besitz ergreifen.

Im Oktober 1911 schiffte ich mich in Genua ein. Übers Jahr war ich in Rayküll zurück. Doch der missversteht mich ganz, der diese Daten, der überhaupt irgendein Materielles meiner Weltreise als irgendwie bedeutsam beurteilt. Selbstverständlich hätte ich die fremden Kulturen, ohne mit ihnen bekanntzuwerden, nicht soweit durchdringen können, wie mir dies heute zugestanden wird; aber auf diese selbst kam es mir nie an; für Indien und China als solche habe ich mich nie besonders interessiert. Die Weltreise unternahm ich in keinem anderen Sinn, als wie man einerseits die Materialien für einen schon konzipierten Roman studiert, sich andererseits einer Kur unterzieht, über deren Wirkung man im voraus Bescheid weiß. Mir kam es einzig darauf an, für mich zu erleben, wie ein tief genug im Selbst verwurzelter Geist, indem er den Erdball umkreist, sich eigentlich nur um seine eigene Achse dreht, insofern ihm alle nur möglichen Geistes- und Seelensprachen unter den gegebenen Umständen gleich selbstverständlich sind, und durch dieses Erleben hindurch eine neue höhere Seins-Einheit zu erreichen. So hatte ich auch die weltanschauliche Ausbeute meiner Reise nicht unmittelbar im Auge: diese ergab sich als Unvermeidlichkeit aus der Tatsache, dass meine Natur nur durch Schaffen und Darstellen zu erleben und zu lernen fähig ist. Richtig zugelernt im üblichen Sinn habe ich unterwegs nicht viel. Als ich die Reise antrat, war ich, virtuell und potentiell, bereits so weit, durch die verschiedenen Kulturen, Religionen und Philosophien, welche den meisten noch letzte Instanzen sind, hindurchzusehen; ich hatte mich bereits vom kritischen zum Sinnes-Philosophen vertieft. Nur bewusst wurde mir mein neuer Zustand erst, nachdem ich mir, was dank den Reiseerlebnissen geschah, über seinen Sinn theoretisch klar geworden war; erst dann konnte jener schöpferisch werden. Und für andere überzeugend darstellen konnte ich jenen Zustand nicht früher, als bis ich die spezifische Form für eben diese Darstellung gefunden hatte; denn erst der genau entsprechende Ausdruck verhilft dem Sinn zur Verwirklichung. Diesen Ausdruck erkannte ich denn vorausschauend in dem eines möglichen Reisetagebuchs. Der Plan war vor der Reise gefasst, bestimmte meine Einstellung während derselben Tag und Nacht; seine Ausarbeitung umspannt die Jahre 1912 bis 1918, obschon bereits 1914 alles, bis auf Teile der Abschnitte seit Japan, vollendet vorlag. An diesem Werke habe ich gearbeitet, wie an keinem vorher, ganze Kapitel gestrichen, neue hinzugedichtet, das Ganze nach musikalischen Gesichtspunkten immer wieder neu gestimmt, weil die ganze Mannigfaltigkeit nur zu dem einen da sein sollte: mich selbst im Prozess der Entstehung auszudrücken. Dieses Werk bedeutet sonach wirklich nichts anderes, als den künstlerisch gefassten Prozess meiner eigenen geistigen Geburt. Daher seine sonst unerklärliche Wirkung. Daher die grenzenlose Beglückung, die der Verlauf seiner Schöpfung unausgesetzt in mir lebendig erhielt, trotzdem ich während der Reise selbst sowohl, als die Jahre darauf fortdauernd krank war und vom Leben im üblichen Sinn nichts hatte. Ich fühlte: um das Reisetagebuch zu schaffen, dazu recht eigentlich hatte ich bisher gelebt, denn in dieser Schöpfung ward ich recht eigentlich selbst geboren. Ich glaubte das Ziel meines Strebens erreicht zu haben. Und nun erst begriff ich zugleich den wahren Sinn meiner früheren kritischen Werke: sie sollten mir den Weg frei machen. Wohl betrifft Wissenschaft nur die Grammatik der Welt. Aber man muss sie beherrschen, um das sagen zu können, was man eigentlich meint.

Hermann Keyserling
Menschen als Sinnbilder · 1926
Von der Produktivität des Unzulänglichen
© 1998- Schule des Rades
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