Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Spanien

Revolte gegen das Sterben

Zunächst der Gesamteindruck, wie er in mir, unmittelbar nach meiner ersten Spanienfahrt, Gestalt gewann. Für sich gehört Spanien nicht zu Europa, sondern zu Afrika. Wer von Frankreich aus die Pyrenäen überschreitet, gelangt aus Gartenland recht eigentlich in die Wüste. Was drüben nicht Wüste ist, ist Steppe oder Oase. In Madrid musste ich immer wieder an Karakorum denken, das Tusculum von Dschingis Khan: die königliche Stadt umgibt eine Landschaft von zentralasiatischer Herbheit, Großartigkeit und Weite. Jener strenge Himmel mit seinen pyramidenartigen Wolken, jene bräunliche Steppe mit ihren wie zersprengten spärlichen Bäumen, jene rauhen schneeigen Sierras, die das Ganze einrahmen, ergeben ein Gesamtbild erhabener Öde, wie es nur die Wüstenlandschaft bietet. Absichtlich schreibe ich das extreme Wort Wüste zur ersten Charakteristik von ganz Spanien nieder, um die Gedanken von Hause aus aufs wesentliche zu lenken; buchstäblich passt es allenfalls auf Kastilien. Aber Kastilien ist Spanien, soweit es im Gesamtbild Europas als mächtige Monade in die Augen fällt. Katalonien ist freilich ganz anders, und ein Volk für sich, eine Kreuzung rein-romanischen Künstler- und phönizischen Händlergeists. Andalusien ist das Urbild des Garten Eden im arabischen Sinn; seine vieltausendjährige, Völker auf Völker verführende, beherrschende und überdauernde Seele ist die urweiblichste der heutigen Erde, und insofern dem Geist Kastiliens schroff entgegengesetzt. Die Geister Asturiens und des Baskenlandes berühren sich mit denen von Cornwall und des atlantischen Frankreich. Die aufgezählten Provinzen haben nichts Wüstenartiges. Und doch bestimmt Kastiliens Geist. Denn dieser ist das Integral alles nur möglichen Hispaniertums. Zutiefst unterscheidet alles Hispanische, sogar das Portugiesische, von allem Nicht-Hispanischen die Möglichkeit, sich zum Kastiliertum zu integrieren. Deswegen wirken alle bedeutsamen Spanier kastilisch, wo immer ihre Wiege stand. Dieses Geistige hat nun sein materialisiertes Sinnbild an der kastilischen Landschaft. Was diese kennzeichnet, ist das Kosmische, Gestirnhafte im Unterschied vom Irdischen; das Übergewicht des Planetarischen gegenüber dem Lebendigen, dessen Dasein ja, aus astronomischem Blickpunkt betrachtet, nur eine Anekdote bedeutet. Dies hat der halbdeutsche Philipp II. am tiefsten erfühlt und deshalb überzeugender darstellen können, in seinem Leben und Werk, als jeder echtere Spanier. In der besonderen Düsternis dieses Mannes, der mit dem Escorial das nächst den Schädelpyramiden Tamerlans überzeugendste Denkmal des kosmisch verstandenen Todes schuf, sehe ich den stärksten Beweis der Elementarkraft der kastilischen Landschaft: sie ließ eine von Haus aus wahrscheinlich zu zarte Seele zur Wüste eindorren.

Das gleiche Übergewicht des Planetarischen über dem Lebendigen ist es, was alles Afrikanische auszeichnet. Es kennzeichnet alle afrikanische Landschaft, alle afrikanische Kultur. Und seit Urzeiten gehört Spanien dem afrikanischen Kulturkreis an. Seine Kultur ist ein Sonderausdruck des gleichen uralten und urstarken Geistes, der schon die vorägyptischen Kulturvölker beseelte und sich auf arabisch oder berberisch nicht minder echt ausdrückte, wie auf spanisch. Er ist wirklich uralt: wer die Kochkunst der Steinzeit kennenlernen will, begebe sich heute unter die Hirten der spanischen Sierras. Weil er uralt ist, deshalb allein kann das uralte Baskenvolk für Spanien immer erneut repräsentativ werden; galt dies einstmals von Ignatius von Loyola, so gilt es heute von Miguel de Unamuno. Er ist andererseits aber auch urkultiviert: unter wurzelechten Spaniern gibt es keine Proleten. Aber dieser Geist ist eben wesentlich nicht europäisch, sondern afrikanisch und deshalb vom Beduinen her für uns Nordländer am leichtesten zu verstehen. Dieser hat sich, indem er sich Jahrtausende lang in der Wüste aufhielt und sie bezwang, andererseits ihrem Bild entsprechend selbst erschaffen. Er ist herb und ernst und willensmächtig und elementar. Im Extremfall ist er fanatisch wie der Wüstensturm. In seiner verschwiegenen Tiefe aber ist er warm und zart. Das gilt von aller Seelentiefe Afrikas. Keine Seele ist durchbluteter und insofern wärmer. Daher die Süßigkeit der arabischen Poesie. Daher die Gemütfülle des schwarzen Menschen. Im Spanier nun füllt der emotionale Reichtum, der den afrikanischen Menschen auszeichnet, den Körper der antiken und christlichen Tradition.

Und nun weiter: der ernste Wüstenbewohner muss andererseits irgendwie phantastisch sein. Jeder Wüstenbewohner ist von Hause aus donquixotesk. Das heißt, sein Leben bedeutet ein Sichdurchsetzen des Winzigen und in seiner Winzigkeit Eigenwilligen und insofern Lächerlichen gegenüber der kosmisch gefügten Unermeßlichkeit. Aber lächerlich erscheint dies Sichdurchsetzen nur dem Außenstehenden; für spanische Augen fehlt der Gestalt des Don Quixote jede Komik. Ihnen erscheint er, im Gegenteil, als höchstes Menschen-Sinnbild, und dies in weit höherem Grade als den Deutschen Goethe. Was waren denn alle repräsentativen Taten der Spanier anderes als Don Quixotiaden, vom Cid über die Conquistadores — Cortez verbrannte seine Schiffe, Pizarro zog mit einem winzigen Fähnlein nach Peru — über das geistige Conquistadorentum des Heiligen Ignatius bis zum langen Einzelkampf Miguel de Unamunos gegen Diktatur und Königtum? So ist auch jeder Spanier einzeln und einsam, wie Don Quixote; so muss sich jeder fühlen in der Wüste. Er ist vereinzelt, obgleich er sich, wie jeder Mittelmeerländer, in erster Instanz vom Standpunkt des anderen sieht und deshalb den Gemeinschaftsforderungen, im Gegensatz zum insichgekehrten Deutschen, immer gewachsen bleibt. Daher sein ans Anarchische grenzender Individualismus. Der Spanier ist sich tiefer als irgendein Europäer dessen bewusst, dass letztlich er allein sein Leben lebt, dass ihm im letzten niemand helfen kann. Daher seine Kultur des Mannestums, der Manneswürde, im Extremfall die Sucht, über Männer (nicht Frauen, nicht Sachen!) zu herrschen. Daher sein besonderer Ehrbegriff: der spanische honor beruht auf rein subjektiver Leidenschaft, dem Pathos des Einzigen. Dementsprechend versteht er den Begriff der Gerechtigkeit im westlichen Sinne schwer, erscheint ihm die Selbsthilfe als einzig sinngemäß und menschenwürdig. Der unparteiische Richter, welcher kalten Bluts einen ihn nichts angehenden Menschen verurteilt, muss ihm dem Mörder gegenüber minderwertig dünken. Immer wieder ersteht vor meinem inneren Auge jener Karton von Goya, auf dem zwei Duellanten bis über die Knie eingegraben dicht voreinander stehen, so dass keiner dem anderen entrinnen kann, und die Erzählung, dass heute noch in Aragon Duelle stattfinden, wo sich die Gegner mit der Linken unlöslich verschlungen halten, mit der Rechten das Messer führend… Persönlicher Mut ist dem Wüstenbewohner alles. Abstrakte Gerechtigkeit kann solcher Mentalität nur dort verständlich werden, wo sie als Ausdruck des Inquisitionsgedankens in die Erscheinung tritt: hier setzt sich eben persönlich-leidenschaftlicher Lebens- und Herrschaftswille durch. Nichts war je in Spanien populärer als die Inquisition. Doch endet dort jede Gerechtigkeitsbewegung allzuleicht inquisitorisch, so bedingt die ursprüngliche Wärme andererseits, dass in Spanien, wo immer es angeht, Gnade vor Recht waltet. Die ganz tiefe Menschlichkeit des Spaniers allein erklärt, warum gemeuterten Soldaten immer wieder, aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung, verziehen werden muss; sie ist der Seinsgrund der schönen Tradition, dass der König am Karfreitag schlimmste Verbrecher begnadigt und nun auf die Gesellschaft loslässt, mit der schlichten Formel: Ich vergebe dir, wie ich hoffe, dass Gott mir vergeben wird.

Der Wüstenbewohner ist ernst und zugleich phantastisch. Vor allem aber ist er lebenshungrig, denn die Wüste schreit recht eigentlich nach Leben. Aber dieses Lebensgefühl ist durch und durch realistisch. Von keiner ätherischen Seele träumt er, er weiß sich von Fleisch und Blut. Nie werde ich’s vergessen, wie Unamuno mir, um das Fortleben des Vaters in den Kindern zu beweisen, schilderte, wie sein Sohn einmal stundenlang auf dem Marmortisch eines Cafés hinkritzelte: soy de carne, soy de carne (ich bin aus Fleisch) — genau wie er selbst. Das Fleischsein, nicht das Geistsein ist dem Spanier Urgefühl. Daher das eigentümlich Praktische, ja terre-à-terre-hafte sogar der spanischen Phantastik. Das Urbild von Schillers Ritter Delorge warf der Dame den aus dem Löwenzwinger geholten Handschuh ins Gesicht, weil sie wohlgeborene Menschen unnötiger Lebensgefahr aussetzte. Und weiter: Der Wüstenbewohner ist sich der Tragik des Lebens an erster Stelle bewusst. So stellen die besten spanischen Christusbilder den Heiland agonisierend dar. Mit dem Leben bejaht der Spanier auch den Tod, mit dem Leben liebt er zugleich das Blut, sein unmittelbarstes Sinnbild. Daher die Unausrottbarkeit des Stierkampfes. Mannesmut und Blutlust leben sich in ihm aus — nicht aber Grausamkeit. Grausam ist der Spanier gar nicht. Blutfreude, ja Blutdurst grausam zu heißen, beweist selten Besseres als moralische und physische Feigheit, denn wer das Leben wirklich bejaht, muss auch den Tod bejahen und mit dem Tod, in einer Welt der Freiheit, auch das Töten. Sobald keine Leidenschaft im Spiele ist, erscheint der Spanier sogar extrem human. Eben weil das Volk seine Blutlust in der Corrida abreagiert, ist es andererseits menschlicher als die Völker, die sich ihre Freude am Blut nicht eingestehen — genau wie Chirurgen und Krankenschwestern typischerweise besonders freudig und freundlich sind. Im gleichen Sinn ist Spanien ganz und gar nicht militaristisch: wo Mut und Blutfreude auf das Individuum hin allein als wertvoll gelten, so aber unbedingt, da bedarf es keiner Rückversicherung in mechanischer Organisation. So wären die Spanier, falls sich die Frage sinnvoll stellte, vermutlich leichter für staatliche Abrüstung zu haben als die Deutschen. Wo nun der Wille zum Leben also suprem ist, da übersteigert er sich. Im leeren Raum der Unermeßlichkeit der Wüste erwächst ein frenetisches Streben nach persönlicher Unsterblichkeit, nach Unsterblichkeit mit Haut und Haaren. Hier liegt die Wurzel der islamischen Unsterblichkeitsgewissheit, in einem oasenhaft schönen Paradies; hier die von Unamunos besonderer Lehre, deren Urquell die Revolte gegen das Sterben ist; hier die der Idee der Gruft des Escorial, wo Sarg auf Sarg noch ungeborener Könige harrt. Und nebenbei bemerkt: nur insofern er den Geist in fleischlicher Verkörperung allein als wirklich anerkennt, nur insofern ist der Spanier wesentlich katholisch. Heute ist er’s in dogmatischem Verstand, denn das katholische Dogma hat ihn zu dem gebildet, was er heute ist. Doch verleugnete er einmal sein Christentum — katholisch im Gegensatz zum Nicht-Katholiken wird er bleiben.

Ja, der Spanier weiß nur vom fleischgewordenen Wort. Ebendaher seine asketischen Züge. Wo der Geist primär als fleischgeworden erlebt wird, dort kann auch das Fleisch nie geistfrei empfunden werden noch wirken. So erwachen nicht allein die Sinne der Spanierin in der Regel nur, wo sie seelisch liebt, auch spanische Männer, so ungeheuerlich sie zoten, leben praktisch öfter als irgendwo sonst gemäß weiblichem Keuschheitsideal. Daher die wunderbare Durchseeltheit jedes spanischen Körpers, bei noch so großer Ungeistigkeit und Armut an Erleben. Ebendaher denn, im Extremfall, jener Entwirklichungstrieb, der den Spanier von neuer, sehr realistischer Wurzel her, auf andere als die bisher betrachtete Weise dem Araber nahebringt. Die in der Wirklichkeit selten vollkommene Einheit von Fleisch und Geist muss, bei vorhandenem tragischen Lebensgefühl, im Bewusstsein immer erneut zu extremer Spaltung führen. So ist jeder Spanier zugleich Don Quixote und Sancho Pansa. Extreme Realisierung und extreme Irrealisierung sind die zwei Pole, zwischen denen sich sein Leben und Erleben immer erneut bewegt. Wobei jeder Traum sofort zu fleischhafter Wirklichkeit gerinnt und jede Wirklichkeit doch wiederum erdüberlegenen Geist verkörpert. Sancho Pansa ist, vom Deutschen her beurteilt, weniger Bauer als Ironiker.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Spanien
© 1998- Schule des Rades
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