Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Spanien

Moderne Spanier

Auf das bisher Geschriebene hin werden moderne Spanier mir Vorhalten, ich hätte vom alten Spanien gehandelt, nicht vom modernen. Aber das ist es eben, was jeden Nicht-Spanier an Spanien am meisten beeindruckt, dass das Alte in einzigartiger Kraft im jeweils Neuen fortlebt. Substanz, als zeitlos wirksame Macht, lässt den, der sie schaut, im Augenblicke immerdar die ganze Kontinuität der Zeit mitschauen, und Vergangenheit ist immer länger als Gegenwart. Hier komme man mir ja nicht mit Detailbegründungen wie denen, dass Spanien noch mittelalterlich sei, Renaissance und Reformation nicht erlebt habe: insofern ist es auch noch antik, auch noch prähistorisch — ja könnte es sogar noch futuristisch sein… Die Wahrheit ist, dass die psychische Atmosphäre Spaniens wie die keines anderen Landes unseres Kontinents von der Ursubstanz her ihren Charakter erhält. Diese wirkt sich in jedem Empfänglichen als erste aus.

Aber freilich ist auch bedeutsam, inwiefern Spanien heute anders erscheint, als es einmal war. Eine kurze Umstimmung des Grundthemas vom Tragischen auf das Komische, sein Korrelat, hin dürfte am schnellsten zeigen, wie hier die Dinge liegen. Einen spanischen Diktator stellt sich der voreingenommene Fremde unwillkürlich wie Philipp II., dessen Feldherrn Alba oder Torquemada vor. Dass Miguel Primo de Rivera nicht diesem Typus angehört, wusste ich freilich, bevor ich Spanien besuchte; und bat deshalb darum, als wir uns treffen sollten, dass dies bei Sekt und schönen Frauen geschähe. Als dann aber Primo erschien, war ich doch überrascht: nicht allein ein Señorito Andaluz stand vor mir an Stelle eines herben Castiliers — er glich recht eigentlich dem dicken, frauenfreundlichen Gendarm im französischen Vaudeville, der etwa beim Anblick draller Bonnen singt:

Sapristi, quelle belle personne…

Da begriff ich zunächst, warum Primo grundsätzlich nicht zu stürzen ist: Könige, Staatspräsidenten werden gestürzt, Schutzleute wurden es noch nie. Und wie ich dann weiter sah, nicht allein welch prächtiger Mutterwitz, sondern auch welch nüchterner Verstand und warmes Herz ihn beseelen, da begriff ich auch weiter, wieso wohl dieser Mann, den alle Geistigen Spaniens verdammen, der sich persönlich allen und allem Geistigen gegenüber phantastisch töricht benommen hat, wieso dieser ganz primitive, im Letzten unbedeutende Mann, welcher fähig wäre, mit jenem russischen General, der zum Kurator einer Universität ernannt, im Museum nur neun Musen fand, zu befehlen, man stelle sofort die zehnte auf, für Spanien vielleicht mehr getan hat als die meisten seiner Regenten seit guten hundert Jahren — dieses Urteil wird bestehen bleiben müssen, auch nachdem die Diktatur erledigt sein wird; auf deren Basis erst wird ein besseres Neues, gegenüber dem früheren spanischen Parlamentarismus möglich werden —: er verkörpert das Gegenbild des ewigen Don Quixote. Wer ist dies nun? Der nicht minder ewige Sancho Pansa. In einem Chauffeurzeitalter ist dieser tatsächlich als echter Regent am Platz. So gehört auch Primo de Rivera dem ewigen Spanien an. Und ebenso tut es sein König, aller Könige modernster. Auch die Spanier sind heute nicht mehr monarchistisch im traditionellen Sinn; innerhalb der jüngeren Generation gilt dies wohl von keinem Europäer mehr, der zählt. Gewiss gibt es viele, welche Monarchie, gegenüber der Republik, für die an sich bessere Staatsform halten; zu diesen gehöre für Deutschland ich selbst. Gewiss gibt es sogar Legitimisten unter ihnen. Aber dies dann um der historischen Kontinuität willen, nicht darum, weil Sprossen bestimmter Familien von Hause aus höhere Wesen wären. Geborene Könige sind gerade die Mitglieder noch oder noch kürzlich regierender Familien am allerseltensten. Erstens haben die Jahrhunderte der Konstitution aus geborenen Führern geborene Medien geschaffen; daher die besondere Neigung der Fürsten zum Okkultismus. Dann hat das generationenlange Leben im Schaufenster ihren Typus zu einem nur repräsentativen gemacht — und Repräsentation bedeutet Wesentliches nur in einer alten, keiner neuwerdenden Welt. Vor allem aber hat das traditionelle Hofleben jeden Zusammenhang mit der modernen Wirklichkeit verloren, so dass eben das, was den Hof Ludwigs XIV. weltbedeutsam machte, heute sinnlos wirkt. Gewiss gibt es auch heute vortreffliche, ja bedeutende Menschen unter den Fürsten. Aber der Typus wirkt heute genau im selben Sinn als künstliche Züchtung, wie es jene japanischen Hähne sind, welche die meterlangen Federn hervorbringen, die man gelegentlich in Theaterrevuen sieht: diese Hähne werden bekanntlich so gezüchtet, dass in einem ganz hohen, aber ganz engen, keine Horizontalbewegung ermöglichenden Käfig, in dem sie leben müssen, die Schwanzwurzeln besonderer Massage unterworfen werden, während die Federenden ein wachsendes Gewicht zu tragen bekommen. Ebendeshalb sind Fürsten heute die innerlich unsichersten aller Menschen. Außer in neuen, wie den Balkan-Ländern, wo der Anschluss an europäische Tradition überhaupt die Hauptsache ist, kann sich der jüngste traditionelle Fürstentyp im Guten dort allein erhalten, wo seine Rolle, wie in England, eine rein symbolische ist. Wie gefährlich sie wird, wegen des absoluten Mangels an Realitätsgefühl dieser Menschenart, wo der Fürst mehr als Symbol sein kann, beweist das Beispiel Wilhelms II. — Alfons XIII. nun ist König im, ich möchte sagen, vortraditionellen Sinn, wie es die Gründer der Dynastien waren.

Das heißt, er bewährt sich als König von Fall zu Fall, und deshalb lässt man ihn bis auf weiteres gelten. Als einziger unter den lebenden Monarchen war er nie anderes als König; so fehlt ihm die typisch-fürstliche Unsicherheit. Das dadurch bedingte naive Selbstbewusstsein, weiter begünstigt durch die in manchen Hinsichten mittelalterlich verbliebene Struktur der spanischen Seele einerseits, und andererseits durch den absoluten Mangel an Kriechertum im ganzen Volk — als König kann er sich doch immer nur als Freier unter Freien fühlen — ermöglicht Alfons XIII. denn, gerade als König Pionier zu sein. Wohl meistert er alle historische Tradition: was er sagt und tut, geschieht doch in erster Linie im Geist eines ersten Königs. Im Großen lebt er à conto der auf ihn verübten Attentate. Persönlicher Mut ist das eine, was das ganze Volk verlangt sowohl als ehrt. Im besonderen aber lebt er recht eigentlich à conto der Zukunft: schon lange vor dem Kriege war er der erste spanische Chauffeur. Und nun kommt die Hauptsache vom Standpunkte Spaniens: im allerhöchsten Grad verfügt er über jene Selbstironie, die von jeher den Kontrapunkt zur spanischen Grandeza ab gab. Vor einem Jahrhundert etwa zerbrach das spanische Weltreich. Während der letzten Jahre bestellte ein südamerikanischer Staat nach dem andern beim Madrider Modebildhauer Independencia-Denkmäler. Die wurde der König immer wieder einzuweihen gebeten. De la meilleure grâce du monde unterzog er sich dem Amt: c’est une manière comme une autre de reconstituer l’empire, où le soleil ne se couche pas. Tatsächlich schließt die spanisch sprechende Welt sich auf neue Art zu mächtiger Einheit zusammen.

Zur Zeit da ich dies schreibe, 1926, administriert Spanien, dem Geist der Chauffeur-Welt entsprechend, Sancho Pansa; der erste Grande und zugleich erste Chauffeur des Landes macht halbironisch mit. Don Quixote aber sitzt in Gestalt Unamunos genau auf der spanisch-französischen Grenze, den Blick nach der Heimat gewandt, die ihm Mutter und Tochter zugleich sei und wartet vergeblich darauf, nun selbst einmal zur Herrschaft zu gelangen. Er wartet tatsächlich darauf. Was ist in dieser modernen Welt wesentlich anders als in der alten? Cervantes behält ewig recht.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Spanien
© 1998- Schule des Rades
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