Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Einführung

Alle Völker sind natürlich scheußlich. Der Mensch an sich ist ein recht fragwürdiges Wesen; nur in seltenen Ausnahmefällen erfüllt ein Exemplar seiner Gattung die Anforderungen, die jeder instinktiv an jeden anderen stellt. Tritt er gar als Kollektivität in die Erscheinung, so muss das Unerfreuliche direkt proportional der Zahl über das Erfreuliche das Übergewicht gewinnen. Das eigene Unangenehme hat freilich beinahe jeder besonders gern. Wie die Natur das Mangelhafte lieber fortvererbt als das Vorzügliche, so haben nur die wenigsten kein Faible just für das, was andere an ihnen verdrießt; vom Geruch bis zu den nationalen Vorurteilen. Desto intoleranter empfinden die meisten gegenüber Fremden. Je näher und dauernder sie sich mit anderen Nationen berühren, desto mehr fällt deren Unangenehmes ihnen auf; daher das Urphänomen der Fremdenfeindschaft. Nur von zwei typischen Ausnahmen zu dieser Regel weiß ich. Deren erste betrifft die echten Herrenvölker im Urteil derer, die nicht persönlich von ihnen beherrscht werden; deren zweite die von Natur aus höflichen. Aber diese Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Zum Wesen beider gehört, dass sie Distanz einhalten; so lernt man sie nur oberflächlich kennen.

Diese kurzen Gedankengänge genügen, wie mir scheint, um die Absurdität jeder nationalen Selbstverherrlichung zu erweisen. Gewiss soll jeder Nationalstolz hegen und beweisen — nicht jedoch insofern sein Volk als solches wertvoll wäre, sondern insofern er ihm persönlich angehört und auf seine persönliche Würde hält. So verstand es der alte Römer: aus dem civis Romanus sum, der Zugehörigkeit zu Rom, ergab sich ein Höchstmaß von Selbstverpflichtung für den einzelnen. Dies wiederum hatte zwangsläufig gewaltige Werbekraft zur Folge. Wer immer jedoch seine Vorzüge daher ableitet, dass er Glied einer besonderen Kollektivität sei, denkt schief und macht sich objektiv lächerlich, persönlich unbeliebt. Daher das Abstoßende des modernen Nationalismus. Alle Völker als Völker sind nun einmal in erster Linie scheußlich. Das Nationale an sich ist bei keiner einzigen Nation mit irgendeinem Wert verknüpft. Wer insofern ein Volk gegen andere ausspielt, wer eins für höchst- und andere für minderwertig erklärt, dem ist nur zu verzeihen, wenn er nicht weiß, was er tut. Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten; wir sind allzumal beschränkt. Alle Völker zusammen erst ergeben einen einigermaßen befriedigenden Begabungsspiegel. Jedes Vorzüge erscheinen durch korrelative Nachteile kompensiert.

Nein, einzig als Urmaterie, als Formprinzip und Weg für den einzelnen und einzigen hat das Nationale Wert. Ebendeshalb bemisst jedes Volk instinktiv seinen Rang an der Anzahl und dem Kaliber menschheitsbedeutsamer Großer, die es hervorbrachte. Und selbstverständlich kann nur vom Einzigen her und auf ihn hin bei Nationen von Werten überhaupt die Rede sein, denn alle Werte haben am Einzigen ihren einen und einzigen Exponenten1. Daraus folgt denn weiter: der einzelne und einzige ist immer mehr als ein Volk, sei es das eigene oder ein fremdes. Werte haben mit Masse grundsätzlich nichts zu tun. Christus predigte Nächstenliebe, weil er nicht Philanthropie und Demokratie meinte. Dementsprechend hat jeder einzelne als einziger das selbstverständliche Recht, über ganzen Völkern zu Gericht zu sitzen. Was sein Spruch wert sei, hängt allein von seinem Eigenwerte ab. Und dies besagt hier: wie weit er persönlich fähig ist, das Material, das eine Volkheit bietet — mehr bietet sie nie — in seiner Eigenart und Geeignetheit für bestimmte Geist- und Sinnesverwirklichung zu erfassen. Hier wiederum kommt es auf sogenannte Kenntnisse überhaupt nicht an. Was da ist, ist eben da, gleichviel, woher es stammt; dieses sieht einer unmittelbar, oder er sieht es nie. Es erschließt einer das national Charakteristische aus wenigen repräsentativen einzelnen, oder er erfasst es nie. Verstehen ist eben ein anderes als Wissen; es ist unmittelbares Sinn-Erfassen, nicht anders, wie die Malerei als Kunst, im Unterschied vom Handwerk des Kopisten, ein unmittelbares Erfassen der Bedeutung des Sichtbaren in seinem Zusammenhänge ist.

Was nun den Sinn und die Hinsicht meiner Kritik der Völker betrifft, so sei das Folgende bedacht. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem, was ein Mensch sich selbst, anderen und vor der Ewigkeit bedeutet. Hier liegt schon der Sinn eines der tragischsten Aspekte des Ich- und Du-Verhältnisses: niemand wird wirklich um seiner selbst willen geliebt und geehrt — er kann es niemals werden, weil es dem Ich unmöglich ist, ein Du anders als in bezug auf sich zu sehen. Die Bedeutung historischer Persönlichkeit liegt überhaupt nicht in ihrem an sich: sie gilt einzig als Exponent und Repräsentant, und die Spannung zwischen dem für andere und für sich geht hier gar oft so weit, dass das jeweils Bedeutende das ist, woran dem lebendigen Menschen selbst am wenigsten liegt. Dass gar vor der Ewigkeit sowohl die Ich- als die Du-bezogenen Normen versagen, lehrt jede Religion. International liegen die Dinge nun nicht anders wie interpersonal. Auch die Frage, was ein Volk für sich, für andere Völker und für Gott bedeutet, erfordert grundsätzlich drei verschiedene Antworten, welche auf einen Nenner zu bringen nie gelingen kann. In gewissem Sinne sind die Juden erwiesenermaßen das auserwählte Volk; das ändert jedoch nichts am negativen Urteil, das es vom persönlichen und nationalen Standpunkt oft verdient. Nun fällt bei Völkern die Frage des Ewigkeitswerts in dessen genauem Verstände freilich fort. Kein Volk als solches hat Ewigkeitswert, denn nur das einzige Subjekt steht in unmittelbarer Beziehung zum Absoluten; es bedeutet eine unstatthafte petitio principii, wenn eine Nation den Ewigkeitswert ihrer größten Söhne sich selber gutschreibt. Dafür können Völker, über das Historisch bedeutsame hinaus, in einem höheren Grade menschheitsbedeutsam sein, als von irgendeinem einzelnen, mit Ausnahme der Allergrößten, gilt: dies liegt daran, dass sie das Menschheitsthema, auf dessen vorbildlicher Behandlung Menschheitsbedeutung jeweils beruht, sofern ihre Grundlage sie dazu prädestiniert, nicht einmal, sondern viele Mal und vielfach abwandeln können. So bedeutet die deutsche Musik als Ganzes vom Standpunkt der Menschheit mehr als die irgendeines einzelnen deutschen Musikers. Aber dieses Sonderverhältnis führt nur dazu, dass sie das Inkommensurable der Beziehung zwischen Einzigkeit und Vielheit und Ganzheit auf neue tragische Weise äußert. Menschheitsbedeutsam ist ein Volk immer nur in bestimmten Hinsichten, nämlich in denen, wo seine Sonderanlage es zum berufenen Organ der Menschheit macht. Dieser kosmischen Wahrheit gegenüber nützt keine abstrakte Gerechtigkeitserwägung, von der grobmaterialistischen des Platzes an der Sonne bis zur sublimsten, die vom unendlichen Werte jeder Menschenseele ihren Ausgang nimmt. Und diese kosmische Wahrheit ist wohl die kosmisch letzte Instanz. Vor ihr bedeutet die Menschheit, gegenüber dem einzelnen und Volk, die primäre sowohl als die höhere Wirklichkeit.

Meiner Natur nach sehe ich das einzelne im Zusammenhang des Ganzen, in das es hineingehört. So betrachte ich die einzelnen Völker in diesem Buch vom Standpunkt Europas; was sie für sich sein mögen, lasse ich fast ganz außer Betracht. Im großen und ganzen bin ich überzeugt, allen Völkern, die ich behandelt habe, gerecht zu werden. Allerdings aber muss ich zugeben, dass der allein mir darin beizustimmen Ursache hat, dessen Welt, gleich der meinen, eine dynamische ist, der in der Befriedigtheit kein menschenwürdiges Ziel sieht; welcher alles einzig in Funktion des inneren Fortschritts beurteilt, des wirklichen sowie des möglichen; der endlich im Menschenleben überhaupt nur einen Weg sieht, um im Geist zu wachsen. Ich habe persönlich keine Ansicht über das Fortleben nach dem Tode, da ich noch nicht weiß. Doch besinne ich mich auf meine tiefste Meinung, so muss ich sagen: ich glaube, dass die Völker nichts als verschiedene Verkörperungsmittel sind, denen die Seele ihrer Eigenart entsprechend ihre Wahl trifft. Alles Massenhafte, alles Historische ist letztlich um des einzelnen und einzigen willen da. Insofern es nun verschiedene Stadien gibt, gibt es, so ich recht habe, auch höher und niedriger stehende Völker. Ich glaube ferner an eine Hierarchie der Menschheitswerte. Kraft und Schönheit sind ein absolut Höheres als Häßlichkeit und Schwäche; so ist es Überlegenheit gegenüber der Subalternität, aristokratische gegenüber plebejischer Artung. Ebenso glaube ich, dass gemäß dem Korrespondenzgesetz von Sinn und Ausdruck Schönheit und Häßlichkeit immer symbolisch sind, weshalb ich für missverständlich halte, zwischen Verschiedenwertigem je Gleichungen aufzustellen. Und doch bin ich nicht antiker Heide, sondern Christ, insofern ich einerseits das Unzulängliche allein für produktiv, und andererseits jedes Sosein für fähig halte, zum Ausdrucksmittel von Höchstwertigem zu werden. Nur eben in verschiedenem Sinn, auf verschiedenem Niveau. Auch der Kleine und Niedrige kann vollkommen werden, aber nur eben in Form der Kleinheit und Niedrigkeit. Ob einer nun in Form der Größe oder der Kleinheit seine Vollendung erreicht, ist seinerseits metaphysisch bedeutsam. So schreibe ich denn wohl — darin täusche ich mich, denk’ ich, nicht — unbefangen, doch nicht voraussetzungslos. Eine solche Voraussetzung ist mir, dem Dynamiker, natürlich auch ein bestimmtes Entwicklungsziel. Dieses ist ein besseres Europa, von edleren Völkern bewohnt; von edleren, insofern dem unveränderlichen Naturmaterial, wenn es nur ganz erkannt ist, höherer Sinn eingebildet werden kann. Freiheit vermag in der Tat aus dem, was ist, was noch so häßlich ist, Schöneres zu gestalten. Voraussetzung ist mir aber auch die Einheit des heutigen Europa. Daher der Titel. Er fiel mir erst nachträglich ein, nachdem ich gesehen, dass ich tatsächlich eine Spektralanalyse Europas vorgenommen hatte. Aber dass ich sie vornehmen konnte, setzt eben voraus, dass mir Europa von Hause aus eine Einheit ist, aus bestimmten, notwendig hineingehörigen, sich gegenseitig ergänzenden Komponenten zusammengesetzt.

Zum Abschluss noch einige Worte über die Sonderart und Entstehung dieses Buchs. Es ist, wie mir scheint, wesensverschieden von allen, die ich bisher schuf. Grundsätzlich ist es Ausdruck eines äquivalenten Zustands, welchem das Reisetagebuch seine Entstehung dankt — seit 1925 liegt das Aktionszentrum meiner Natur, gemäß der besonderen Periodizität meines Lebens, wieder im Schauen und Erleben. Doch da sich das Leben niemals wiederholt, so hat die wiederhergestellte Einstellung der Tagebuchzeit zu neuen Bildungen geführt. Diese Einführung, die ich post festum schrieb, mag den Eindruck erwecken, als hätte dem Buch von Hause aus ein abstrakter Plan zugrunde gelegen: in Wahrheit und die Bilder der Völker, die ich zeichne, ursprünglich spontane Gestaltungen meines Unbewussten (die ich nachträglich freilich kritisch durchreflektierte). Wessen ich mir beim Schreiben ursprünglich bewusst war, war eigentlich nur der Drang nach Konkretem, Bestimmtem, Bildhaftem, und dann das Bedürfnis, einmal die ironische und satirische Seite meines Wesens auszuleben. Insofern ich nun bisher unausgewirkten Kräften meiner Natur, während der Jahre der Arbeit an diesem Buche, freien Lauf ließ, erlebte ich eine wunderbare innere Befreiung. Logischerweise sollte dieses Buch eben dadurch auch auf andere befreiend wirken. Wird es das? Dies hängt ganz und gar vom Humor und von der Überlegenheit meiner Leser ab. Hier kann ich ihnen nur mit dem folgenden Ratschlag helfen. Es vergesse keiner beim Lesen, dass das vorangestellte Motto: Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten, die eigentliche Seele des Buches darstellt, und dass infolgedessen, wer sich über diese oder jene Persiflage ärgert, recht eigentlich gegen die Spielregeln verstößt, wie im Fall des Tadelstuhl genannten Spiels. Manche werden vielleicht zu schwerfällig sein, um auf diese Erwägung hin allein das ihnen zunächst Peinliche lächelnd hinzunehmen — diesen empfehle ich, eine Weile à la Coué die Tatsache zu meditieren, dass ich mein eigenes Volk nicht besser behandele als fremde: sind sie ihrem Ich nur im mindesten überlegen, so werden sie dann doch nach einer Weile entweder mitlachen oder an nationale Besserung denken. Aber einigen wird dieses Buch allerdings ein reines Ärgernis bereiten. Da lege ich nun Wert auf die Erklärung, dass ich dies nicht bedauere, sondern darauf hoffe. Ich hoffe, dass alle Pharisäer, alle Philister, alle Kleinlichen, alle Bourgeois, alle Humor- und Witzlosen sich so recht von Herzen ärgern möchten. Wem es an jeder Begnadung durch die Gottesgabe der Selbstironie gebricht, mit dem kann und will ich nichts gemein haben. Für die Todernsten, des Lachens Unfähigen, für jene Vielzuvielen, die zugleich tief und dumm sind, habe ich gar nichts übrig. Sie sind nämlich des echten Ernstes physiologisch unfähig. Denen vermag kein Gott zu helfen, jeder Verkehr mit ihnen ist verlorene Liebesmüh. Auf sie bezieht sich das Wort des großen William Blake: The fool shall never enter into Heaven, be he ever so holy. Der Geist der Schwere ist der eine Erbfeind der Weisheit.

1Vgl. die Ausführung dieses Gedankengangs in den fünf letzten Kapiteln meiner Wiedergeburt.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Einführung
© 1998- Schule des Rades
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