Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Spanien
Leidenschaft der Überzeugung
In großen, übertreibenden, weil einseitig akzentuierenden Linien habe ich gezeigt, was Spanien für Europa bedeutet und bedeuten kann. Und dabei habe ich in diesem Fall beim Positiven allein verweilt, denn Spaniens Fehler und Nachteile sind ohne sinnbildliche Bedeutung. Sie sind einfach Tatsachen, bedauerliche oder gleichgültige; sie sind in keinem Falle, auf den ich käme, als abschreckende Beispiele zu zitieren. Selbstverständlich ist die Masse der spanischen Unterschichten weit hinter denen anderer Länder zurück; nicht umsonst sind sie nahezu eines Bluts mit vielen Afrikanern. Als Abd el-Krim in spanischer Kleidung in Madrid studierte, war er von Spaniern kaum zu unterscheiden. Selbstverständlich handelt es sich sowohl bei der spanischen Indolenz als der besonderen Gleichgültigkeit, die sich als geistiges, politisches und (bei den Männern neuerdings besonders auffallendes) religiöses Desinteressement äußert, nicht um Überlegenheit, sondern um zurückgebliebene Entwicklung. So ist der Spanier noch heute vielfach der Meinung des Cid und der Conquistadores, dass die einzig würdige Art, das so nötige Gold zu gewinnen, darin besteht, es zu rauben oder als Schatz zu finden; Schatzgräbertum zumal ist noch heute spanische National-Idiosynkrasie.. Überaus vieles ist gegenüber dem frühen Mittelalter noch kaum verändert; anderes wiederum entspricht noch der Zeit der Gegenreformation; und manches gar vorhistorischen Zuständen. Aber alles dies spielt im Gesamtbilde von Spanien keine Rolle. So hat denn auch kein Fremder von Rang, der sich je über Spanien äußerte, Interessantes über sein Negatives gesagt. Der Grund hierzu liegt wieder im Urtümlichen, Elementaren der spanischen Substanz: Elemente sind einfach da, man kritisiert sie nicht. Für die Spanier selbst stellt das Problem sich selbstverständlich anders. Freilich muss auch Spanien sich zunächst modernisieren, sich dem werdenden ökumenischen Zustand seinerseits angleichen. Auch dort gewinnt der Chauffeur als Masse die Oberhand — der Weg vom Torero zu ihm ist besonders kurz —; gerade dort, wo der Geist bisher so wenig bedeutete, tut Intellektualisierung und Überwindung weitverjährter Geistesvorurteile besonders not. Und doch glaube ich behaupten zu dürfen: gerade vom spanischen Standpunkt sollte der Akzent auch in Zukunft auf dem zeitlos und ewig Spanischen ruhen bleiben.
Ein Madrider Freund sagte mir, Snobismus-Mangel sei deshalb kein Vorteil sondern ein Nachteil, weil der Snob sich am schnellsten dem angleicht, was ihn übertrifft. Ich erwiderte: dies gilt ausschließlich so weit es gilt — für mechanistisch und intellektualistisch Veranlagte, denn nur auf deren mögliche Entwicklung passt das Fortschrittsschema. Der Spanier ist wohl ausgesprochen dynamisch, jedoch antimechanisch; er hat alle Leidenschaften der Überzeugung, nicht jedoch der Kritik. Er kann deshalb einzig verlieren, wenn er sich so einstellt, als wäre er Engländer oder Franzose. Alle Vorzüge des Spaniers liegen in dem, worin er sich von den letztgenannten Völkern unterscheidet. Er ist wesentlich nicht fortschrittlich. Er ist ewiger Afrikaner im besten Sinn des Worts. Das soll er denn auch bleiben; denn er wird es unter allen Umständen bleiben, solang er seine Substanz bewahrt. Wenn Ortega der Intelligenz für die Zukunft eine geringere Rolle zuerkennt, als sie sie bisher spielte, so ist dies falsch für Europa, jedoch für Spanien richtig. Dort kann die Funktion des Intellekts, dort können Intellektuelle unmöglich je eine entscheidende Rolle spielen. Höchst merkwürdig wirkt auf dem Hintergründe seiner Heimat gerade José Ortega y Gasset: er ist einer der feinsten und universellsten Europäer; er wird einmal als einer der Führer gelten dieser Zeit. Aber es ist nicht wahr, was europäische Kritiker behaupten, dass er in Spanien führe: das ist dort für Geister seiner Art ein Ding der Unmöglichkeit. Nicht die Einsicht ist es, die das Spanierleben regiert. Aber ist es nicht beinahe besser, wenn sie dies bewusst nicht tut? Wieviel wahre Einsicht ist denn bei uns am Werk? Sind Instinkt und Blut, wo sie noch gesund sind und bestimmen können, nicht die besseren Führer? … — Die spanische Substanz kann sich gewiss in moderner Zuständlichkeit verkörpern. Das wird sie zweifellos tun. Aber dieser Prozess wird, wenn es kein Unglück geben soll, in Form der Differenzierung und Ausgestaltung des ewig Gleichen erfolgen, nicht in der des Gestaltwandels. Es war der gleiche Spanier, der in Urzeiten die herrlichen Felsendenkmäler erschuf, der als römischer Kaiser mehrfach die Welt beherrschte, der die neue Welt eroberte, die großen Menschenbildnisse herausstellte, der für den Glauben kämpfte und heute wiederum, durch den Mund Miguel de Unamunos, in großartiger Einseitigkeit das Evangelium der Tragik kündet und der Agonie. Und wenn man da bedenkt, dass wenig Bevölkerungen so viele Rassenveränderungen durchlebt haben wie die der Iberischen Halbinsel, da fragt man sich: ist nicht Wandel überall ein letztlich Äußerliches? Ist nicht alle Substanz letztendlich ewig gleich? — Als Bild des Substanzhaften vor allem hat Spanien für das so wandelfreudige Europa Bedeutung. Als verwirklichte Substanz allein jedenfalls hat Spanien eine neue europäische Zukunft. Nicht umsonst begann sein Neuaufstieg — denn unstreitig steigt Spanien neu auf — zugleich mit dem Abschluss des Fortschrittszeitalters. So möge es als Wesen ewig bleiben, was es immer war.