Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Deutschland

Volk der Dichter und Denker

Was entspricht nun dem Deutschen, von seinem Besten her beurteilt, als äußere Betätigung? Das Bekennen. Bei wem der Nachdruck, so er richtig liegen soll, auf dem Erleben und damit dem Subjektiven ruht, der ist sich selbst nur treu, wo er sich zweckfrei ausdrückt. Daher der eigentümliche Egotismus aller deutschen Großen, in erster Linie Goethes, den zumal kein Brite versteht: der Deutsche muss sich zunächst zu sich selbst bekennen, will er im Guten tätig sein; denn bekennt er sich zu anderen, so verliert er sogleich den Kontakt mit seinem persönlichen Sein. Alles große Deutschtum war denn tatsächlich Bekennertum in irgendeinem Sinn. So war und ist es andererseits — wie jeder Genius seinen Affen hat — alles schlechteste. Luthers Hier stehe ich, ich kann nicht anders war Bekennertum; so ist es aber auch der Exhibitionismus deutscher Hochzeitsreisender. Die deutsche Lyrik ist Bekennertum. Bekennertum ist aber auch die Sucht, aller Klugheit nicht allein, sondern allem Anstand zum Trotz ganz offen die Wahrheit zu sagen. Die deutsche Musik ist Bekennertum; aber so ist es auch die deutsche Lust, private Gefühle auszukramen. Der Introvertierte kann sich in der Außenwelt tatsächlich nur sinnvoll betätigen, insofern er bekennt, denn nur sein Innenleben ist für ihn ganz wirklich. Ist er schöpferisch, so bekennt er Eigenstes. Ist er es nicht, dann lebt er aus der Wiederholung fremden Bekennens heraus. Daher das unaufhörliche Goethe-Zitieren der Deutschen; daher ihr rastloses Singen; sie müssen fremde Lieder singen, um sich selbst zu fühlen. Von hier aus wird denn klar, inwiefern die Deutschen wirklich das Volk der Dichter und Denker sind; nur als solche sind sie als Volk im besten Sinn sie selbst. Aber freilich sind sie auch in quantitativem Verstand das Volk der Denker und Dichter. Keine Nation der Erde bringt so viele Philosophen hervor. Von der Unzahl der Veröffentlichungen abgesehen: ich kenne kaum einen Deutschen, der nicht eine strikt persönliche Weltanschauung hätte, sei er im übrigen Schuster oder Schwerindustrieller. So ist auch die Zahl der deutschen Dichter, mit Hofmannswaldau zu reden, naupengeheuerlich. Ein glücklicher Zufall trieb mir das folgende Aperçu von Moritz Lederer in die Hände:

Man muss einmal in einem dramaturgischen Büro gearbeitet haben, um zu erfahren, mit welchem Recht wir uns das Volk der Dichter nennen. Wer will errechnen, welches Volk den größten Dichter hervorgebracht hat? Aber; eins wusste ich schon nach kurzer dramaturgischer Tätigkeit: so viele Dichter, insbesondere so viele Dramatiker, wie in Deutschland, gibt es bestimmt bei keinem Volk der Erde. Zwanzig, dreißig Dramen am Tag an einer einzigen Bühne sind durchaus keine Seltenheit. Ein süddeutsches Nationaltheater verbuchte während meiner Tätigkeit im Monat durchschnittlich 450 Eingänge. Man kann demnach die Anzahl der in einem Jahr eingereichten Dramen ziemlich zuverlässig mit 5000 angeben. Natürlich ist dieser Segen nicht bei jedem der vierhundert deutschen Theater gleich groß. Erfahrungsgemäß werden an mittleren und kleinen Bühnen mehr Stücke eingereicht als an großen führenden Theatern. Aber man haut gewiss nicht sehr daneben, wenn man die Anzahl der an den deutschen Bühnen in einem Jahr einlaufenden Manuskripte auf zwei Millionen errechnet. Dazu kommen dreihunderttausend Dramen, die bei den Verlagsanstalten eingereicht und direkt an die Autoren zurückgegeben werden, ohne die Theater zu erreichen. Jedenfalls kann man sagen, dass auf jeden zehnten erwachsenen Deutschen ein Dramenmanuskript entfällt. Um sich einen Begriff davon zu machen, was diese 2 300 000 Manuskripte bedeuten, muss man wissen, dass ein solches Exemplar im Durchschnitt 600 Gramm wiegt. Alle zusammen wiegen demnach 1 380 000 Kilo; 275 Eisenbahnwaggons sind nötig, diese dramaturgische Produktion eines Jahres zu verschicken. Ein Heer von 25 000 Briefträgern ist erforderlich, sie an Ort und Stelle zu bringen. Fünfhundert Lektoren oder Dramaturgen haben ein Jahr lang voll zu tun, sie zu lesen. Legt man die einzelnen Hefte oder Bücher an der Kopfseite nebeneinander, so ergeben sie eine Strecke von rund 700 Kilometern, ein D-Zug braucht ungefähr 12 Stunden, um die Länge dieser Literatur zu bewältigen. Trennt man sie aber auf und legt die einzelnen bedruckten oder beschriebenen Seiten nebeneinander, so erhält man ein Papierband, mit dem man nahezu die Erde umspannen kann. Wohlgemerkt: das sind die Zahlen für die Produktion eines einzigen Jahres. Errechnet man jedoch die Summe für die dramatische Leistung eines deutschen Menschenalters (gleich dreißig Jahren), so kommt man auf geradezu phantastische Ziffern. Erst dann kann man ganz ermessen, mit welch gutem Recht wir uns das Volk der Dichter nennen.

Dabei rechnet Lederer allein mit den Dramatikern; die sicher noch bedeutend größere Anzahl der Lyriker nimmt er aus. Gewiss präjudiziert die Zahl nichts über die Qualität. Sicher bringt Deutschland gerade mehr schlechte Philosophen hervor als irgendein Land. Prozentual beurteilt, dürfte es dem unphilosophischen England gegenüber schlecht abschneiden. Denn hat dieses nur ganz wenige Philosophen für sich anzuführen, so sind diese wenigen doch meist beachtenswert, während 90 Prozent der deutschen gar nichts taugen. Ebenso steht es mit der Poesie. Aber andererseits bedingt die nationale Denker- und Dichteranlage, dass Deutschland am häufigsten größte Dichter und Denker hervorbringt. Also ist auf den geistigen Schöpfer allerdings in Deutschland aller Nachdruck zu legen. Ein bekannter Schriftsteller fragte mich einmal, als eine neue Reichspräsidentenwahl in Frage stand: Uns beide nehme ich natürlich aus. Aber für wen würden Sie nun stimmen? Für Gerhart Hauptmann oder Hermann Sudermann? Das war natürlich naiv. Nicht ohne Naivität war auch Thomas Manns Proklamierung Gerhart Hauptmanns zu Deutschlands König. Aber zweifellos hat auf dem Dichter und Denker im Deutschen Reich der nationale Schwerpunkt zu ruhen.

Und damit, noch einmal, auf dem Einzigen. In Deutschland auf Majorität, ja auf Masse zu setzen, bedeutet Bekenntnis zu unentrinnbarer Inferiorität. Das deutsche Volk ist nun einmal so strukturiert, dass sein Wert in seinen Einzelnen liegt, nicht in Klassen, wie bei aristokratischen Nationen, wie bei den Ungarn, nicht in Eliten wie in Frankreich, und schon gar nicht bei den Massen. Mag Deutschland für sich denken, was es will; vom Standpunkt Europas, von dem der Menschheit, von dem der Ewigkeit beurteilt liegen die Dinge so und nicht anders. Hier liegt der Sinn des Goethe-Worts:

Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit.

Selbstverständlich treibt das Einzigkeitsbewusstsein seinerseits nur zu oft die allerseltsamsten Blüten. Sind die nicht einzigkeitsbewussten Deutschen neidisch auf solche, von denen sie fühlen, dass sie mehr sind als sie, so sind es die meisten kleinen Einzigkeitsbewussten wiederum in Form grotesker Selbstüberschätzung, was in seiner Projektion auf die Ebene des äußeren Lebens zu jener Überschätzung der Stillen im Lande führt, die wohl als Deutschlands schlimmste Pest betrachtet werden darf. Denn der Kleine, der irgendeinen Stillen zum Gott macht, meint natürlich sich. Nur die Stillen im Lande haben offenbar auf Bedeutung für die Allgemeinheit Anspruch, denen ein Gott gab, zu sagen, wie sie leiden. Statt dessen hält sich nun jeder, sofern er nur nach außen zu nichts leistet, hohe Gefühle hat und von der Welt nichts will, jedem Bewährungsfähigen für überlegen.

Leider beweisen ja Gefühle als solche nichts: gleich hohe können einer Magenverstimmung wie einem metaphysischen Erlebnis ihren Ursprung danken. Im übrigen aber liegt es in jedem Liebenden zu behaupten: so wie ich hat noch keiner geliebt. Die Stillen im Lande werden nun zu einer öffentlichen Kalamität, seitdem sie sich nicht mehr damit beschäftigen, was ihnen einzig ziemt: sich still zu verhalten. Heute schreien sie; sie machen zum großen Teil die öffentliche Meinung. Und gar zu oft leiden sie an unmittelbar pathologischem Größenwahn. Ich erhalte jährlich wohl über drei Dutzend Bücher oder Manuskripte ohne jeden Wert, zu deren jedem der Autor oder ein Freund desselben bemerkt, es handele sich um die wichtigste Leistung aller Zeiten, der Verfasser sei zweifellos größer als Jesus Christus. Solcher Urteilsfehler beruht darauf, dass sich bei extrem Introvertierten alle Libido von der Außenwelt aufs Ich zurückzieht und dieses damit zu Weltgröße erweitert. Hier liegt — Margarete Müller-Senftenberg zuerst hat dies ganz deutlich gemacht — die eigentliche Wurzel des schizophrenen Größenwahns. Sie ist in der Tat die Wurzel der meisten deutschen Selbstüberschätzung. Im gleichen Sinn überschätzt der Deutsche überhaupt das Kleine gegenüber dem Großen. Es ist phantastisch, welche Bedeutung sich in Deutschland kleinste Kreise beimessen. Einmal kam ein tiefsinniger Geheimrat zu mir und erzählte mir: Wir saßen zu drei in Schlachtensee. Wir hielten das Schicksal der Welt in der Hand. Leider haben wir es vertan. Er war im übrigen ein tüchtiger Mann, wenn ich mich recht erinnere, einer der obersten im Reichsschatzamt. Nicht anders steht es grundsätzlich mit solchen Kreisen, die sich um wirklich Bedeutende scharen. Meist fehlt deren Gliedern jeder Sinn für Maß, Proportion und Relativität. Weil einer schöpferisch oder unbedingt oder substanzhaft oder bahnbrechend überhaupt ist, soll er gleich der Eine, auf den es ankommt, der schlechthin Größte sein. Wo doch, im Zusammenhang des Menschenwerdens beurteilt, selbst einem Nietzsche nur die Rolle eines Stoßtruppführers der neuen Ära unter anderen zukommt, wo die Welt, mit der allein die Geistigen rechnen, nur eine Provinz des Lebens ist, und nur die wenigen, die einen Alle betreffenden Weltimpuls, wie Jesus, mit einzigartiger Strahlkraft ausstrahlen, das sind, wofür in Deutschland, in verschiedenen, voneinander hermetisch abgeschlossenen Kreisen, immer wieder viele gelten… Aber durch solche Auswüchse darf man sich nicht beirren lassen. Solche kommen immer vor, wo es in erster Linie Wuchs gibt. Deutschlands ganze Bedeutung beruht tatsächlich auf solchen, die sich in erster Linie einzig fühlen.

Mit dem betrachteten Verhältnis hängt denn vieles sonst Unerklärliche zusammen. Erstens die typische Deutschfeindlichkeit des bedeutenden Deutschen. Sehe ich vom Schweigen oder Lügen aus Takt und Klugheit ab, so erschien der große Deutsche nur in dem einen Falle nicht deutschfeindlich, wo er das Volk gleichsam als Landesvater betrachtete. Wie sollte es auch anders sein? Bedingt eine Volksstruktur, dass alle Bedeutung auf dem Einzelnen und Einzigen ruht, dann muss dieser sich im Gegensatz zur Masse fühlen. Eben deshalb wanderte der hervorragende Deutsche von jeher am liebsten aus. Deswegen konnte gerade Deutschland die Rasse der Fürsten stellen, zu deren Eigenart gehört, dass sie sich mit jedem Volk identifizieren. Philipp II. von Spanien, Katharina von Russland, Eduard VII. von England, Albert von Belgien und Ferdinand von Rumänien waren Deutsche. Viele unter ihnen waren ausgesprochen deutschfeindlich. Waren sie es nicht, so erschien ihnen doch selbstverständliche Pflicht, auf ihren Ursprung das geringste Gewicht zu legen. Der bedeutende Deutsche kann gar nicht anders als a-national erscheinen, beurteilt man ihn nach französischem oder englischem Maßstab. Sobald der Bedeutungsakzent auf dem Einzigen ruht, gibt es keine Nation. Ebendeshalb scheidet jeder Ordensbruder par définition aus seinen irdischen Beziehungen aus. Mit dem gleichen Umstand hängt zusammen, dass das deutsche Volk nie neue Völker geschaffen, sondern vielmehr von jeher immer wieder in anderen aufgegangen ist; es beruht nicht allein auf seinem patriarchalischen Charakter. Hier hat Georg Groddeck (in seiner Arche vom 7. März 1927) das Angemessene gesagt:

Der Kannegießer (so nennt Groddeck hier sich selbst) weiß, dass dieses Volk in ganz anderem Sinne als die Engländer am Leben schafft. In ewiger Fruchtbarkeit niemals alternd, jung wie am ersten Tage schenkt es als Mutter der Welt dem Gedeihen der heiligen Rasse der Weißen, schaffende, fügsam geduldige, streitbare und nimmermüde Kinder. Was geht diese Mutter das Gezänk der Staaten an? Seit Jahrtausenden strömen von ihr fort Menschen und Völker, aus ihr geboren, hierhin und dorthin, nach Osten und Westen und Süden und Norden. Es bricht ihr das Herz nicht, wenn ihre Söhne von ihr abfallen, wenn sie sich, wie jüngst die Engländer, gegen die Mutter wenden; sie leidet, aber im Innersten unversehrt wendet sie den Blick vom Tage ab der Zukunft entgegen. Und kaum vernarben die Wunden, die ihre Kinder ihr schlugen, vergisst sie, was man ihr tat, und sendet neue Scharen von Angelsachsen und Franken und Alemannen und Schwaben in die Welt. Sie hat es nicht nötig, Herrin zu spielen, die Welt zu erobern, mit Heldentaten und Abenteuern ihren Namen in der Leute Mund zu bringen, sie braucht nichts zu werden, sie ist.

Selbstverständlich folgt hieraus nicht, dass die deutsche Nation sich als solche preisgeben soll. Sie soll sich behaupten, so sehr es nur irgend geht, denn nur insofern sie dies tut, kann sie die nie alternde Mutter sein. Aber ihre Aufgabe soll sie allerdings nicht in dem sehen, worin sie es in ihrer jüngsten Periode sah, sondern eben darin, dass sie die gebenedeite ewige Mutter ist immer neuer größter Söhne.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Deutschland
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