Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Deutschland

Österreich

Zum Schluss noch ein Wort über Österreich. Ob es zum Anschluss kommt oder nicht in Raum und Zeit, das weiß ich nicht. Doch dass er wesentlich bereits erfolgt ist, ist desto gewisser. Gleichfalls gewiss ist, dass die Staatsgrenzen Europas immer weniger bedeuten werden. Österreich ist urdeutsch, daran ist nicht zu rütteln. Wer immer an Deutschland denkt, muss Österreich als integrierenden Bestandteil mit hineinbeziehen.

Allerdings sind die Österreicher anders als die Reichsdeutschen. Aber welcher Deutsche wäre nicht irgendwie anders als jeder andere? Hier verweise ich auf den Eingang dieses Kapitels zurück: der Deutsche steht und fällt mit seinem Partikularismus. Er steht und fällt jedenfalls im Guten mit ihm, denn da der Akzent in ihm, wo er richtig liegt, auf dem Einzigen ruht, so muss dieses in der Erscheinung extreme Mannigfaltigkeit ergeben. Nationaler Ausgleich im französischen oder englischen Verstand ist für Deutsche unmöglich, ohne dass sie ihr Bestes preisgeben. Hier nun gehen die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Partikularismus so weit, dass Deutschland direkt undeutsche Typen organisch einschließt, und zwar nicht bloß im Sinn aus der Art geschlagener Sonderkasten, sondern unmittelbar nicht-deutscher Völkerschaften. Auf dem Gebiet des Lebens gibt es ja nirgends Monaden im absoluten Sinn; alles hängt hier innerlich und äußerlich zusammen; hier gibt es kein Ich ohne korrelatives und polares Du. So war keine Kultureinheit je hermetisch abgeschlossen. Die Antike lebte recht eigentlich in bezug auf das kultivierte Barbarentum. In das moderne Europa gehören zwei wesentlich nicht-europäische Länder als notwendiges Du mit hinein. Erstens Russland. Für sich wird Russland immer ausschließlicher einerseits und andererseits asiatischer, trotz aller Intellektualisierung und Technisierung, die heute ebensowenig ein inneres Verhältnis zu Europa mehr erfordern, wie Rechnenkönnen eine persönliche Beziehung zu Adam Riese. Aber wer könnte den heutigen Seelenzustand unseres Erdteils ohne Bezugnahme auf Dostojewsky verstehen? Wer wird ihn bald ohne Lenin verstehen können? Dabei bedeuten beide Geister für Russland ganz anderes als für uns. Dostojewsky steht zu seinem geliebten Vaterland in einem ähnlichen Verhältnis wie Jesus zu den Juden: er ist wesentlich nicht Russlands Messias. Lenin hingegen wird im Osten immer mehr zum Bild eines Heiligen, während er uns, absolut genommen, das Satanische repräsentiert, und historisch den Erwecker der kompensatorischen fascistischen Gegenbewegung. Das zweite nicht-europäische Land, das dennoch unbedingt zum neuen Europa gehört, ist das schon betrachtete Spanien. Analog steht es denn mit Deutschland, das hier im selben Sinn als Spiegel Europas erscheint, wie der beste deutsche Geist die Welt spiegelt; direkt undeutsche Elemente gehören grundsätzlich mit hinein. Erstens weil die Begriffe Deutschland und deutscher Geist mehr zusammenfallen, als die von Deutschland und deutschem Volkstum; den größeren Teil von Mittel- und Osteuropa beherrscht nun einmal jener; dann, weil das Nationale beim Deutschen überhaupt eine geringere Rolle spielt als bei anderen Völkern. Deshalb entsprach das politische Ungebilde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation dem deutschen Wesen besser als der moderne Nationalstaat. Der Staat ist keine organisch-deutsche Idee; noch heute, wie zu Arminius Zeiten, fühlt sich der Deutsche viel mehr als Stamm oder als Partei, denn als Volkheit. Weitere Unterschiedlichkeiten schafft die Abgeschlossenheit der deutschen Natur. Da leben grundverschiedene Menschen nah beieinander, ohne ineinander überzugehen, gleich wie verschiedene Blumen in einem Garten. Der ungeistige Kölner hat mit dem Belgier mehr Ähnlichkeit als mit dem Deutschen Goethescher Artung; der reine Niedersachse, der Hamburger ist dem Engländer nächstverwandt. Andererseits sieht der Russe im Tschechen mit Recht einen in slawischer Sprache redenden Deutschen: sein besonderer Protestantismus ist in der Tat, wenn irgend etwas, deutsch. Der Tscheche ist ohne eigene Seele; die Verselbständigung des tschechischen Staats bedeutet viel mehr eine soziale als eine nationale Umwälzung. Alle Oberschichten Böhmens waren längst austrofiziert, außerordentlich viele bedeutende Österreicher waren andererseits tschechischen Ursprungs. Der Österreicher nun, vom Neu-Deutschen noch so verschieden, gehört ins Reich der Deutschen auf Grund des Rechts der Erstgeburt hinein, denn er repräsentiert Deutschlands ältesten Kulturtypus.

Österreich ist das eine repräsentative deutsche Land — Stille im Lande gibt es aller Art auch unter deutschen Stämmen, doch sie bedeuten politisch und historisch nichts —, dessen lebendige psychologische Wurzeln nicht erst aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg stammen. Seine Bewohner sind die einzigen Deutschen von mit den Westvölkern gleichem kulturellen Alter. Es ist das einzige Land, in dem die Tradition des Heiligen Römischen Reiches fortlebt, wo der deutsche Universalismus sonach noch heute einen Körper hat, weshalb es als kein Wunder erscheint, dass die Idee jenes Reiches Österreichs beste Jugend neu ergreift. Dass Österreich im übrigen, anders ist als die anderen deutschen Länder, ist nur ein Sonderausdruck dessen, dass Deutschland potentia alle nur möglichen Typen in sich begreifen kann, die letztlich doch den gleichen Generalnenner haben: auch der Österreicher bekennt sich letztlich zum deutschen Geist. Der Österreicher ist nicht introvertierter Denktyp; er ist kein Ordnungsmensch; er ist in erster Linie psychologisch und gefühlsmäßig begabt, insofern dem Engländer ähnlich. Er ist diskret, hat Form, auf allen Gebieten, ein dem französischen gleichwertiges Qualitätsbewusstsein, weswegen Weltreputationen außer in Paris auch in Wien gemacht werden. Was speziell diese Stadt betrifft, so verhält sie sich zu Deutschland so, dass seine Bildung persönlich und nicht sachlich ist, dass Grazie hier der Schwere gegenübersteht, Leichtfertigkeit dem Ernst, Esprit der Gründlichkeit, Lyrismus mozartischen Geistes dem Gemüt. Der Österreicher ist andererseits charakterschwach, und mit seiner Tüchtigkeit ist es nicht weit her. Geistig unbegabt ist er durchaus nicht; überaus viele Erfindungen hat er zuerst gemacht, doch war er meist zu indolent, um sich das Urheberrecht zu sichern. Vor allem aber war der österreichische Deutsche dank seiner Stellung der herrschenden Schicht in der Donaumonarchie, die aber wenig zu tun hatte und keine ernste Verantwortung trug, zu einer Art von Luxuspflanze geworden; dies gilt zumal vom Höchstausdruck des Österreichertums, dem österreichischen Adel. Dessen Leben war schon lange ein rein dekoratives gewesen. Kein Wunder denn, dass er, als das Gebäude der Donaumonarchie zerfiel, zu Staub zerbröckelte, so wie der Stuck, wenn eines Palastes Decke einstürzt. In den Söhnen so mancher lebender österreichischer Aristokraten sind aller Wahrscheinlichkeit nach die Begründer von Dynastien formvollendeter Oberkellner zu verehren. Denn der Kellner ist die letzte Sublimierung des Kavaliers; als Kellner sind wohl alle auf Kulturboden überzüchteten Geschlechter aller Zeiten geendet, wenn sie nicht ausstarben.

Aber wenn die feinste Blüte des alten Österreichertums historisch erledigt ist, so gilt dies mitnichten von Österreich als Wesen und Ganzheit. Dessen Länder sind noch kerngesund. Als ökonomisches Zentrum des Nahen Ostens hat Wien mehr Zukunft denn je. Vor allem aber lebt noch der österreichische Geist, dieser uralte und hochdifferenzierte Kulturgeist, der immer wieder beliebiges Blut assimilierte, welcher Völkerschaften verschiedenster Sprache durchdrang und dank dem jahrhundertelang die politische Wundertat vollbrachte, sie mit sanfter Hand auch äußerlich zusammenzuhalten. Dieser Geist ist der Antipode des preußischen. Seine Lebensmodalität liegt im Lassen und nicht im Tun, in der Weichheit und nicht in der Härte. Das Österreichertum ist insofern wesentlich, politisch beurteilt, der zweite Brennpunkt des Kraftfeldes Deutschland, dessen erster Preußen ist; es war kein Zufall, dass zuerst Österreich, später Preußen führte, nachdem einmal der mittelalterliche Zustand hinter ihm lag und Differenzierungen größeren Stils den kleinen Platz gemacht hatten. Aber in Zukunft darf man Deutschland ebensowenig allein in der Spannung Preußen-Österreich einbeschlossen sehen, als in der Spannung von Weimar und Potsdam: Weimar, Potsdam und Wien zusammen erst umgrenzen mit einiger Genauigkeit den ganzen Reichtum des deutschen Wesens, wie es sich heute darstellt. Wieder einmal wirkt sich das Weltgesetz des Stirb und werde aus. Das alte Preußen ist tot; so ist es das alte Österreich. Theoretiker meinten nach dem Zusammenbruch, nun sollte Weimar allein bestimmen. In Wahrheit aber entsteht, aus dem Sterben der alten heraus, eine neue reichere Einheit als es irgendeine frühere war: was in der Explikation nicht mehr lebensfähig ist, wird nun Bestandteil eines Größeren, Niedagewesenen. Potsdam ist der Brennpunkt einerseits von Klein-Deutschland, andererseits der modernen deutschen Weltgewaltigkeit; Potsdam ist insofern auch das Sinnbild des amerikanisierten Deutschland. Weimar ist das des reinen und universellen deutschen Geists. Wien nun ist Sinnbild und Brennpunkt zugleich der deutschen Kultur. Kultur gibt es nur als Form, als äußeren Ausdruck, als Leben. Nur die extravertierte Abart des Deutschen hatte insofern die psychologische Möglichkeit, Kultur zu schaffen. Diese nun ist in ihrer Wiener Prägung bei aller Sonderart nicht weniger universell wie der Geist von Weimar. Von Wien aus hat die deutsche Musik die Welt erobert. Der österreichische Mensch hat als Kulturtyp überall werbende Kraft. Wien liegt im Osten; den heute selbständigen jungen Völkern schenkte es zuerst Kultur. Aber zugleich bedeutet es in ähnlichem Sinn das Fenster Deutschlands nach dem Westen, wie dies St. Petersburg für Russland war. Es gehört noch psychologisch in die alte Kulturgemeinschaft der Christenheit hinein. Es ist nicht wesensverschieden von Frankreich und England. So ist es kein Wunder, dass die Wiedereroberung Europas durch deutschen Geist im kulturpolitischen Verstand seit Versailles von Österreich ausgeht. Mag Österreich noch so schwach sein: die in ihm lebendige Idee ist noch heute die, welche einstmals das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erschuf. Österreich ist innerlich nicht allein noch, sondern auch schon europäisch, Gewiss wird es nie mehr vorherrschen. Das Heilige Römische Reich ersteht nie wieder; Geschichte wiederholt sich nicht. Wohl aber wird Österreich im künftigen Groß-Deutschland, durch den Dreiklang Wien-Potsdam-Weimar umgrenzt, als Vertreter deutscher Kultur eine größere Rolle spielen, als während des letzten Jahrhunderts der Donaumonarchie. Denn im inniger zusammenhängenden Europa von morgen wird die geistige Wurzel dessen, was einmal in Gestalt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erblühte, nämlich die übernational-europäische Idee, in zeitgemäßer, erweiterter Form die Geschichte erneut bestimmen.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Deutschland
© 1998- Schule des Rades
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