Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Ungarn
Zigeunermusik
Lange bevor ich Ungarn kannte, war ich begeisterter Liebhaber der ungarischen Musik. Diese kompensiert für meine Natur die geistig strenge von Bach, die mir in gleichem Grade entspricht. Bin ich einerseits ein Mensch der strengst-vergeistigten Form, liegt in dieser meine Haltung, so liegt meine Lösung unmittelbar im Dionysischen. Dieses verkörpert für mich zunächst das Russische, denn aus Russland stamme ich als emotionelles und temperamentelles Wesen her. Doch nicht das Russische melancholischer Artung, das der grenzenlosen braunen Ebene oder der blauen Feme entspricht mir, sondern eben das Dionysische, dessen berufene Künder die Zigeuner sind. Es ist ein sehr Merkwürdiges um dieses Wanderervolk. Seine Harmonik und Melodik ist indisch: so mancher heilige Gesang, den ich in Indien vernahm, berührt sich nah mit magyarischen Zigeunerweisen. Aber dieses Europa-Fremde bringt doch in jedem Land, wo die Zigeuner am nationalen Leben teilhaben, dessen Triebcharakter echter zum Ausdruck als die Musik der wurzelechten Rasse. In den Gitanos erscheint die südspanische Leidenschaft wie verselbständigt herausgestellt. Sogar bei den Andalusiern ist diese immerdar gehalten; in Form des Zigeunertums löst sie sich zu eigenster Urwildheit heraus. Nie werde ich’s vergessen, wie ich den Gitanas einer Höhle bei Granada einmal zuviel Manzanilla spendierte und diese darauf zu reinen Mänaden wurden; mein Führer stahl mich buchstäblich heraus: es sei nicht ausgeschlossen, dass mir an Schwarmszenen am Parnaß Gemahnendes zustieße. Der russische Zigeuner ist der echteste Verkörperer des russischen Duch, jenes mächtigen Schwungs, der doch immer wieder in melancholische Leere ausläuft. In Ungarn nun ist die Zigeunermusik das vollkommene Ausdrucksmittel des sich entspannenden Eroberers. Nach wildem Ritt, nach todesmutigem Kampf, nach gefahrvoller Streife in fremdem Land ein Schwebezustand. Einerseits immer wieder Vertrautes, Heimliches aufgreifend, andererseits das gleiche jeder Stimmung und Eigenart folgend individuell variierend. Ein vollkommenes Lassen
, ein vollständiges Entfließen aus der Form. Dann aber wieder sich augenblicklich fassend, in strengsten Rhythmus zurückfallend, jeweils ausklingend in geschlossenem Vorstoß oder auseinander schwirrendem Rückzug nomadischer Reiter.
Mir nun entspricht letztlich das magyarische und nicht das russische Zigeunertum. Das liegt einerseits gewiss daran, dass auch in mir irgendwo in der Tiefe der Nomadenhäuptling lebt. Es liegt aber vor allem wohl an dem, dass ich seine Musik und sie allein als rein aristokratisch empfände. So, wie dies die magyarische Zigeunermusik zum Ausdruck bringt, fasst und löst sich nur die Seele des Aristokraten. Und das will sagen: des Menschen, dessen Wesenszentrum den polaren Spannungen seiner Natur ursprünglich überlegen ist, der keinen Ausgleich braucht, dieses wesentlich Bürgerliche, weder in sich noch in anderen; welcher Geist und Blut immer auf einmal und gleich stark bejaht, dessen innere Spannung gar nicht hamletartig zerreißen kann; für den es die Problematik des am Leben Leidenden nicht gibt, weil Leid und Freude, gleichwie Tod und Leben, ihm selbstverständlich korrespondierende Koordinaten sind. Der Zigeuner nun spielt so, wie es der Hörer will. Wie der magyarische Primas die Art seiner Improvisation nach den Augen dessen richtet, der ihm am besten folgt, so spiegelt die Musik der Zigeuner überall die Wesensart derer wider, unter denen sie leben. In Spanien die gelegentlich ausbrechende Leidenschaft des Gehaltenen; in Russland ziellos, jäh in sein Gegenteil umschlagendes Temperament, Leichtsinn und Indolenz, doch auf dem Hintergründe großzügigster Weite; in Ungarn den Lösungszustand wesentlichen Herrentums. Denn die Magyaren sind das aristokratischeste Volk, das Europa heute bewohnt.