Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Ungarn
Aristokratie
Der Aristokrat ist natürlich an erster Stelle eine besondere zoologische Spezies. Ebendeshalb ist er aus abstrakten Erwägungen weder zu begründen noch auch zu widerlegen. Schon ob einer konservativ oder radikal gesinnt sei, ist Frage der Physiologie und nicht der besseren oder schlechteren Einsicht. Insofern verstand Lenin, der alle Nicht-Proletarier ausrotten wollte, den Sinn der Dinge tiefer, als jeder Franzose es tut, der aus dem Geist großer Prinzipien heraus den Endsieg des demokratischen Gedankens fordert. Auch darüber ist sinnvollerweise, wo an die ursprüngliche Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Völker geglaubt wird kein Streiten möglich, ob es im allgemeinen
Adel geben soll oder nicht: es ist eine Frage der ursprünglichen Struktur, ob ein Volk einen Adel hervorbringt, verträgt und verlangt, oder aber nicht. Diese Struktur besteht unabhängig von der Regierungsform, von denen jede ja irgendeinmal gewaltsam eingeführt wurde, und dann meist über Gebiete beliebigen Gefüges übergreifend. So schien ganz Europa im Mittelalter aristokratisch, so scheint es heute demokratisch. Tatsächlich aber ist jedes Volk, das sich nur einigermaßen selbst bestimmt, auf die Dauer immer so organisiert, wie es seiner Struktur entspricht; das heißt, die Akzente der moralischen Macht liegen auch dort richtig, wo die der offiziellen und materiellen an vom Strukturstandpunkt falschem Orte ruhen. Wie wenig notwendig innere Struktur und äußere Ordnung so zusammenfallen, wie dies modernes Vorurteil verlangt, erhellt am besten aus dem Folgenden: gerade wo die intime Struktur die Wiege der Regierungsform war, führte dies meist zu anderem, als jenes als selbstverständlich voraussetzt. Aristokraten z. B. sind für sich immer Republikaner; die normale Staatsform aristokratisch strukturierter Völker ist daher die Republik und nicht die Monarchie, denn wer sich als Herr fühlt, duldet nur schwer einen, der sich als mehr dünkt, über sich. Trugen viele Aristokraten der Geschichte trotzdem eine monarchische Spitze, so lag dies zumeist an der unbewusst wirkenden Einsicht, dass die Souveränität jedes auch jeden als Souverän gefährden würde; hier liegt der Sinn der Zerrbildhaftigkeit des alten polnischen Reichs. Während der Sinn der Stabilität der Entwicklung sowohl als des jeweiligen Zustands Englands darauf beruht, dass ein gesinnungsmäßig aristokratisches Volk von republikanischer Anlage sich bewusst im historisch richtigen Augenblick zur demokratischen Staatsform bekannte, wodurch die Adelsherrschaft gesichert blieb, und die faktische Adelsrepublik doch wieder in eine monarchische Spitze auslaufen ließ, die indes eine ausschließlich symbolische Rolle spielt; so erscheinen in diesem Volk, psychoanalytisch gesprochen, alle möglichen Komplexe auf günstigste Art besetzt. Doch das englische Volk ist nicht im selben Sinne aristokratisch wie das magyarische. Wie im England-Kapitel ausgeführt wurde, ist seine Gesinnung wesentlich sozial und insofern nicht ausschließlich in der Qualität, sondern in sehr erheblichem Grade auch in der Quantität zentriert. Dementsprechend ist in England Ideal, dass jeder Gentleman sei. Dessen Ideal ist ein Kompromiss zwischen den Ansprüchen persönlicher Souveränität und sozialer Gleichheit; es verleugnet alle Unterschiedlichkeit der Typen, bis auf die eine zwischen Gentleman und Nicht-Gentleman; es ist also das Adelsideal einer Zeit des Gleichheitsglaubens. Das ungarische Volk bejaht demgegenüber gerade die Unterschiedlichkeit. Es beneidet die Ausnahmestellung seiner großen Herren nicht, es ist vielmehr stolz auf sie; es verdenkt es dem geweihten Hirsche nicht, dass er den Kopf hoch trägt, es verlangt diese Haltung von ihm. Es ist so organisiert, dass es sein Bestes bewusst mit einer bestimmten repräsentativen Herrenschicht identifiziert. Seine Söhne haben die innere Möglichkeit, für sich Ideale anzuerkennen, die doch nicht jeder für sich erreichen kann. Sie wollen die Vorherrschaft der als solcher anerkannten Aristoi. Sie verlangen bei gleichem Selbstbewusstsein, wie es nur je ein Gleichheitsgläubiger hatte, Hierarchie. Hiermit hielten wir denn das Grundkennzeichen aristokratischer Gesinnung: der Stolz und das Würdebewusstsein des Aristokraten bedarf, um zu bestehen, nicht der äußeren Gleichstellung mit anderen. Dies aber kommt daher, dass in einem Bewusstsein der Akzent auf seiner Einzigkeit ruht. Er vergleicht sich überhaupt nicht; also muss er neidlos sein. Von hier aus verstehen wir, warum alle Zeiten höchsten Menschentums solche bestimmender aristokratischer Gesinnung waren. Die Menschheit ist nun einmal qualitativ differenziert; jeder kann nicht alles sein; deshalb bedeutet der Anspruch auf Gleichheit in allem ein kosmisches Missverständnis, das nicht umhin kann, sich in der Praxis als Unheil auszuwirken. Ferner muss Neid bestimmen, wo der Gleichheitsanspruch besteht; einziges Mittel gegen diesen ist — es sei denn, das Individuum verzichte zugunsten des Kollektivums, womit es als differenziertes Wesen Selbstmord begeht — Einzigkeitsbewusstsein, und dieses kennt als Typus nur der Aristokrat. Vor allem aber kann es, wo ein Ideal für alle gelten soll, und sei es auch das des Gentleman, Höchstblüten nur als Zufallsprodukte geben, und keinesfalls bestimmende Höchstblüten; solche erwachsen nur, wo das Außerordentliche in seiner Entstehung und seinem Gedeihen gefördert wird. Soviel von der kulturellen Bedeutung aristokratischer Gesinnung. Aber diese allein entspricht sogar der Idee der Christenliebe, nach der man den Nächsten lieben solle wie sich selbst: diese bedeutet nämlich, richtig verstanden, keinen Gleichheitsanspruch, auch nicht Philanthropie, sondern die freudige Bejahung des Nicht-Ich- und des Anders-Seins.
Aber noch einmal: nicht jeder kann Aristokrat sein oder aristokratisch fühlen. Hier handelt es sich um ebenso primäre Einstellung wie jene, die einerseits den französischen Zentralismus, andererseits den englischen Parlamentarismus produktiv und beide Lebensformen, auf Deutschland übertragen, verderblich machen (inwiefern, habe ich auf S. 56 der Neuentstehenden Welt ausführlich gezeigt). Es gibt ganze Völker, wie es Millionen Einzelner gibt, die freudig in der Identifizierung mit einem anderen ihren höchsten Ehrgeiz ausleben, so wie der echte Christ sein Ideal im Heiland freudig anerkennt. Die betreffenden Völker brauchen nicht die der vornehmst gesinnten Mehrheiten zu sein. Bei der unüberwindlichen Minderwertigkeit alles Durchschnitts und dem Gesetz der Enantiodromie (des Umschlagens in das Gegenteil) ist vielleicht sogar Regel, dass in aristokratischen Völkern besonders viel Dünkel und Ränke in die Erscheinung treten; sicher herrscht unter ihnen häufiger Ungerechtigkeit gegenüber Gruppen als in Demokratien, denn der Aristokrat sieht, wie es nicht anders sein kann, da sein Selbstbewusstsein Einzigkeitsbewusstsein ist, an erster Stelle den Einzelnen und Einzigen, wo jene diesen jeder Mehrheit opfern. Aber die aristokratisch strukturierten Völker sind unter allen Umständen die der größten inneren Mannigfaltigkeit und zugleich des feinsten unmittelbaren Gefühls für Niveau und Rang, weshalb sie den Einzelnen immer am besten gelten lassen; so ließ das mittelalterliche England viel mehr Begabte aus dem Volke hochkommen als das heutige. Für Niveau und Rang fehlt dem demokratisch Gesinnten naturnotwendig das Organ, denn wer überhaupt vom Postulat der Gleichheit ausgeht, muss das für andere Nützliche über das in sich Wertvolle stellen. So bestreiten Juden, die am meisten unter ungleichem Recht gelitten haben, gern sogar die Bedeutung von Begabungsunterschieden überhaupt.
Es gibt viele Formen möglicher Aristokratie. In Indien bedeutet die Brahmanenkaste, d. h. die der Weisen, die aber arm zu sein haben, die anerkannte Krönung aller anderen. In Alt-China galt Gleiches von den aus beliebigem Milieu, wie bei uns im Fall der katholischen Geistlichkeit, rekrutierten Edlen
; dort vererbte sich Adel nicht. Auch im modernen England, das, insofern es halb-aristokratisch ist, im Vergleich mit den meisten anderen modernen Völkern aristokratisch strukturiert erscheint, fehlt eine richtige Adelskaste, denn alle Welt will Gentleman sein; aber der Verdienst- und Besitzadel perpetuiert dort das Bild der alten Aristokratie, und an dessen besonderem Glanze freut sich das ganze Volk. In Ungarn nun liegen die Dinge so, dass ein allgemein aristokratisch gesinntes, als Adel fühlendes Volk seinen angestammten Hochadel Krönung bewusst immer neu aus sich herausstellt, welcher Hochadel im höchsten Grad zu glänzen hat. Dies galt nicht bloß bis zum Weltkriegsende: es gilt noch heute. Und wie wenig notwendig es bei noch so weitgehender äußerer Demokratisierung je anders zu werden braucht, beweist das in dieser Hinsicht psychologisch nahverwandte Polen: das Emporkommen eines tiers-état seit der Teilung hat die moralische Stellung des Hochadels nicht erschüttert. Alle Polen wollen eben große Herren sein. Nur wenige können es, aus äußeren und inneren Gründen. Da sichert die Anerkennung des Ideals dessen geborenen Trägern zwangsläufig entsprechendes Prestige.