Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Ungarn

Überlegenheit

Der Aristokrat ist also erstens eine besondere zoologische Spezies, zweitens verkörpert er einen Menschheitswert. Drittens nun ist er das Produkt besonderer äußerer Umstände: bedarf äußerer Ausnahmestellung, um zu erwachsen und zu gedeihen. Aber dies gilt von jedem Menschentum ohne Ausnahme, auch dem Proletarier; jede Ausnahmestellung macht aus dem, dem sie entspricht, einen Ausnahmemenschen. Der geborene Proletarier erreicht in proletarischer Lebensstellung Vollendung seines Typs; dies haben die Bolschewisten klar erkannt. Der geborene König ist ein psychologisch Anderes als gewöhnliche Sterbliche; seine Um- und Merkwelt ist eine besondere; vieles Kleine und Kleinliche gibt es nicht für ihn, während er selbst bei geringer Begabung große Zusammenhänge natürlich übersieht, denen sich nur der exzeptionell Begabte aus anderen Lebenskreisen gewachsen erweist. Analoges gilt vom Grandseigneur, dem Urbild des Aristokraten, nur dass dieser in keiner Hinsicht Spezialist ist. Seine Sonderbedeutung liegt darin, dass in ihm das Menschliche als solches seinen Höchstausdruck findet.

Der Grandseigneur verkörpert insofern einen höheren Typus als der regierende Fürst. Er ist, bei allem Familienstolz, ganz wesentlich nicht Kastenmensch. Für ihn gibt es die groteske Scheidung zwischen seinesgleichen und gewöhnlichen Sterblichen nicht, die das Selbstbewusstsein des Fürsten letzten Endes zum Stolz auf seinen Raritätswert macht, wie dies auch ein Okapi haben könnte. Er ist wesentlich frei, wesentlich überlegen. Sein Ethos verbietet ihm jeden kleinlichen oder auch nur engen Zug. Der Grundsatz noblesse oblige bestimmt sein Leben wirklich, weil seine Existenzmöglichkeit auf dessen Herrschaft beruht. Die rein geberische Gebärde herrscht wirklich bei ihm vor, weil ja das Schenken-Können das Zeichen seiner Vorzugsstellung ist. Privatinteressen sind nie seine letzte Instanz, weil er, par définition, kein bloßes Privatleben hat: er weiß sich ja schon als Privatmann repräsentativ, und nicht zwar im Sinn des Königs, der in unüberbrückbarem Abstand von jedem Einzelnen das Volk vertritt, sondern als herausgestellter Vertreter jedes Menschen. Er ist endlich und vor allem wesentlich unabhängig; er braucht mit niemand zu rechnen, da sein Wert in seinem bloßen Dasein besteht, wo der regierende Fürst auf jeden Einzelnen Rücksicht nehmen muss; von allen Menschentypen muss sich dieser unter Umständen am meisten gefallen lassen. Das Gesagte ist nun tatsächlich typisch für den ungarischen Grandseigneur. Aber leider — dies sei hier gleich gesagt — für ihn allein im heutigen Europa unter allen Geburtsaristokraten, denn er allein hat noch die Stellung, die seiner Art entspricht. Insofern unterscheidet sich seine Klasse von keiner anderen mehr als gerade der ihm nach Gotha gleichgestellten, ja überlegenen der heutigen deutschen Standesherren. Auch die Standesherren waren als Typen höhere Menschen, solange sie Größeres, als sie und ihre Güter waren, repräsentierten; und der französische Historiker, der behauptete, einzige gute deutsche auswärtige Politik sei bis in die Moderne hinein von Standesherren gemacht worden, hat wahrscheinlich recht: politischer Takt ist nur eine höhere Form von Bauernschlauheit; zu seiner Entstehung ist traditionelle Bodenständigkeit, d. h. persönliche Verwachsenheit mit dem Land, überall die beste generelle Voraussetzung. Höherer Standort ermöglicht ferner ipso facto weiteren Überblick, von den Vorlagen materieller Unabhängigkeit zu schweigen, und solch angeborener hoher Stellung bedarf der innerlich so unsichere deutsche besonders, um sein Bestes zu geben. Doch dies konnte für die ganze Klasse nur so lange gelten, als der Blutsgedanke Europa beherrschte und die Kastenzugehörigkeit an sich die Voraussetzung bedeutete für Größe und Wirksamkeit. Heute sind die Standesherren nicht mehr als eine besondere zoologische Spezies, die keinen tieferen Sinn exponiert als den ihrer übernommenen Sonderstellung. Zweifelsohne sind sie etwas Besonderes: jede Familie, die sich lange genug abschließt und mit wenigen anderen von ähnlicher Grundanlage Inzucht treibt, wird recht eigentlich eine besondere Miniaturnation, die mit Recht in allen anderen Andersgeartete sieht. Nur kommt alles darauf an, was solche Miniaturnation wert sei. Ist ihre innere Weite und Großzügigkeit nicht der äußeren Kleinheit proportional, so ist sie größeren nicht gleichwertig. Solche Weite aber erhält sich als Rassencharakteristikum nur bei entsprechender Aufgabe. Die Standesherren, die traditionellerweise heute noch zu großen Aufgaben berufen werden, sind, im Fall sie einer nicht unbegabten Familie angehören, noch heute oft höhere Menschen. Doch sie sind in der Minderzahl, so sehr, dass sie in keiner Weise mehr den Typus bestimmen. Die Klasse der Standesherren ist heute ein richtiges Ghetto, das sein Sonderleben führt, von allerengsten Privatinteressen bestimmt, unabhängig vom Lauf der Welt. Griff sie in letzter Zeit noch je ins nationale Leben ein, so ergab dies groteske Situationen. So geschah’s in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch von 1918; es war ein Schauspiel für Götter, berichten mir glaubwürdige Zeugen, was in diesen Kreisen vielfach nach der Revolution geschah. Zu einer Periode während der Inflation, als Wälder mehr noch trugen wie Fabriken, planten einige ernstlich, durch einen Gewaltstreich nicht etwa 1918 rückgängig zu machen, sondern 1815: den zuletzt Regierenden sollte endlich gezeigt werden, dass sie nicht besser waren wie die Mediatisierten. Solche Kastengesinnung ist nun das genaue Gegenteil aristokratischer. Sobald ein Adel sich überhaupt als Klasse unter anderen fühlt, die ihren Privatinteressen lebt, hat er seinen Sinn verloren und verdient den Untergang. Was die Stellung und das Selbstbewusstsein des privilegierten Aristokraten rechtfertigt, ist einzig seine Überlegenheit. Deshalb sollten Kleinlichkeit, Engherzigkeit, enger Horizont, Parteilichkeit, Unfähigkeit, jeden Gegner zu achten, in seinen Kreisen als unmittelbar entadelnd gelten; der Träger eines größten deutschen Namens, der nicht die Überlegenheit eines englischen Gentleman hat, steht sozial und menschlich unter ihm. Der echte Aristokrat handelt nie aus Zwang oder innerer Gebundenheit, weil es so Sitte ist oder weil jemand anders es verlangt, sondern ausschließlich aus persönlicher Freiheit; wo diese fehlt, da kann von Adel keine Rede sein. Wo Familien- und Standes-interessen als solche entscheiden, da besteht überhaupt kein Grund, ein bis auf die Karolinger zurückführbares Geschlecht über ein von Levi abstammendes zu stellen, zumal das letztere das ältere ist. Wer innerlich Klein- oder Großbauer, Sozialrentner, Bürger, Feldwebel oder kleiner Beamter ist, der ist kein Edelmann. Heute gar ist der Begriff eines Adels als besonderer Klasse ein vollendeter Unbegriff. Und nicht nur weil die Zeit der Privilegien um ist: alle Ansprüche kapitolinischer Gänse sind erledigt, seitdem der eugenische Gedanke in der ganzen Welt erwacht ist, nachdem bald jeder seinen Stammbaum kennen und in der neugeordneten Welt kein Mensch mehr den deutscher Mediatisierter anders beurteilen wird als den eines beliebigen anderen: nunmehr wird einzig entscheiden, welche Qualität die Folge der Geschlechter fortvererbt hat.

Nein, der deutsche Adel als Ganzheit kann heute leider nicht mehr als Adel gelten. Er muss sich von Grund aus erneuern, um in seine fortlebende Vorzugsstellung im Sinn der Anforderungen, die man an ihn zu stellen das Recht hat, hineinzuwachsen. In Ungarn jedoch ist der Hochadel wirklich noch Adel. Er hat eben noch die entsprechende Funktion. Und sein Geist bestimmt die ganze Nation; die ganze Nation ist dort entsprechend adelig. So viele Fehler sie habe: der ganzen Nation Ideal ist Großmut, Gebertum und Opfermut. Jeder Ungar hat das Einzigkeitsbewusstsein, mit dem der Aristokrat als solcher steht und fällt.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Ungarn
© 1998- Schule des Rades
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