Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Ungarn

Leichtigkeit

Doch nun zu dem Einwand, der gegen den Typus des Grandseigneurs am häufigsten vorgebracht wird, und er führt uns zum Spezialfall Ungarn zurück: er betrifft sein Spielerisches; es fehle ihm an Ernst. Hier weist ein deutsch-ungarisches Sprichwort den kürzesten Weg zur richtigen Einsicht. Es lautet:

Verstand hat jedermann,
Vernunft — Husar und Edelmann,
Aber Witz — nur Magnat und höhere Geistlichkeit.
(Sprich: Mógnat und hähäre Geestlichkeit.)

Tatsächlich ist das, was hier unter Witz als Wesenszug gemeint wird, nichts anderes als Leichtigkeit. Die nun ist genau im selben Sinn der eine gewisse Exponent der inneren Überlegenheit, wie die Grazie allein vollkommene Beherrschung der Gesetze der Schwere beweist. Oft möchte ich weinen, wenn ich von sonst ernst zu nehmenden Geistigen aussprechen höre: was ich da sage, ist kein leichtes Spiel, ich habe mit dem Problem gerungen; und wenn andere ein Werk dafür preisen, dass man ihm die schwere Arbeit ansehe. Solche Gesinnung ist schlechthin minderwertig, schon vom bloßen Arbeits-Ethos her beurteilt; wie Walter Pater sagte: only work can efface the footsteps of work. Vor allem aber ist sie’s, weil sie die Schwarzarbeit über die erreichte Meisterschaft stellt. Wem Dinge schwerfallen, ist dem, welchem sie leicht fallen, unter allen Umständen und in allen Hinsichten unterlegen; machen Kritiker einem freien Geist zum Vorwurf, dass er wie spielend mit Ergebnissen mühsamer Forschung schalte, so bedeutet es gleiches, als wenn Bismarck zum Vorwurf gemacht würde, er hätte spielend leicht das Deutsche Reich geschaffen, während sein Koch mühselig in der Küche schwitzte, um ihn bei Gesundheit zu erhalten. Und ebenso unbedingt beweist Tod-Ernstnehmen und Humorlosigkeit Subalternität. Sicher hat Dean Inge recht, wenn er von Gott voraussetzt, dass er vor allem einen keen sense of humour haben müsse. Nur handelt es sich dabei nicht um humour im englischen Sinn, der eine bürgerliche Tugend ist — dieser transponiert das Sich-Abfinden auf gleicher Ebene mit dem Beengenden in die Sphäre der Heiterkeit, hat also eine wesentlich soziale Grundlage —, sondern das göttliche Lachen dessen, welcher allem, was Menschen untereinander so furchtbar ernst nehmen, innerlich überlegen ist. Ein Abglanz dieses göttlichen Lachens ist eben das, was das ungarische Sprichwort unter Witz versteht. Als Übergang vom Göttlichen zum Menschlichen diene das Beispiel des Papstes Leo XIII., der einem enfant terrible hochkatholischer Kreise, das durchaus mit seinem eigenen Kopfe denken wollte, einmal auf deutsch ins Ohr sagte: Stellen Sie sich scheintot, dann werde ich mich scheinheilig stellen. Oh, wenn die Spießer nur wüßten, in wie leichter Form alle wirklich ernsten Entscheidungen unter überlegenen Menschen fallen! Der wirklich Ernste lacht nämlich nicht allein gelegentlich am herzlichsten: es ist ihm vor allem ganz unmöglich, das, was ihm Tiefstes bedeutet, zu exhibieren. Er äußert es, wo es am Platz ist, in möglichst unpersönlichem Zusammenhang; in diesem stellt er, wo nötig, auch seine Person heraus. Aber nie nimmt er sich und eine Sache an sich so ernst, wie es die Schein-Tiefen tun, die ihre Tiefe unablässig auskramen. Das Tiefe muss eben in der Tiefe bleiben und von dort her wirken, um tief zu bleiben; insofern sind die meisten tiefen Reden und tiefen Erlebnis-Bücher nicht bloß unanständig, sondern auch flach: das Tiefe, an der Oberfläche gezeigt, wird oberflächlich. Deswegen war ein gewisses enjouement für jeden wahrhaft Tiefen charakteristisch; sogar für Goethe, der sonst wahrlich pedantisch genug war. So bedeutet die äußere Leichtigkeit des französischen Volks recht eigentlich den Exponenten seiner moralischen Kraft, das Über-das-Tiefste-Hinweggleiten der Briten ihre Substanzverwurzelung. Dem Adel nun sind Haltung und Sicherheit Grundnormen. Ebendeshalb ist er, nach außen zu, typischerweise spielerisch. Dass sich bei der Masse das Negative dieses Zuges häufiger als sein Positives zeigt, ist nur ein Sonderausdruck der allgemeinen Tatsache, dass es mehr unbedeutende als bedeutende Menschen gibt.

Aber im Gezeigten liegt nicht die einzige Wurzel des betrachteten Charakterzugs. Spielertum ist der Normalausdruck der Aufsichnahme von Risiko, und hier liegt, wie ich in Wiedergeburt ausgeführt habe, der eigentliche Sinn der Freiheit; beim Spieler im üblichen Hasardsinn ruht nur der Akzent falsch, nämlich auf dem Zufall als Tatsache, nicht dessen Meisterung von innen heraus. Spielertum ist also grundsätzlich nichts als das Zeichen innerer Überlegenheit über die Tatsachenwelt. Auch deshalb spielen die Kinder. So hat auch nur der mit dem Tode Spielende, wie dies die Norm des Edelmanns verlangt, zu dessen Ernst das richtige Verhältnis. Eine Weile verkehrte ich mit einem Okkultisten, welcher wirklich, soweit Wahrhaftigkeit und Echtheit entscheiden, vom Fortleben nach dem Tode persönlich wusste und in anderen, geistigen Welten zu Hause schien. Immer wieder kam er mir mit Seligkeit, mit der Schwere des Jenseitswegs, der bei jedem großen Geist besonders schwer erschiene. Man solle nur hübsch in der Ordnung Gottes bleiben, dann ginge alles leicht. Ich fragte ihn schließlich: Ist Ihnen denn gar nicht verständlich, dass, wer sein irdisches Leben aus Mut und Wahrhaftigkeit fortwerfen kann, aus den gleichen Gründen unter Umständen auch Jenseitsqual und geistigen Tod erwählt? Ist Ihnen nicht klar, dass keinem Edelgesinnten Glückserwägungen das mindeste bedeuten? Sehen Sie denn nicht, dass jeder höhere Mensch eben das Risiko selbstverständlich auf sich nahm, das Sie vermindern wollen, ja dass der ganze Wert des Menschentums auf der Möglichkeit solcher Selbstverantwortung beruht? Jeder Edle ist insofern, in der Tat, ein Don Quixote, als seine persönlich-geistige Welt ihm mehr bedeutet als alle Gegebenheit und alle geltenden Normen. — Endlich beweist Spielertum Überlegenheit über das Sachliche überhaupt. Keine Sache ist wirklich ernst zu nehmen, nur der lebende Mensch ist es; hier berührt sich wieder einmal die Norm des Edelmanns mit der des Christentums. Oberster aristokratischer Grundsatz ist, dass es aufs Wer ankommt und nicht aufs Was, auch nicht auf Gut und Böse, Recht und Unrecht, Leben und Tod an sich. Daher denn das Duell: es soll nicht objektiv entschieden werden, wer recht oder unrecht hat — wer wollte das je gültig entscheiden? —, sondern, wo ein Konflikt einmal besteht, wird er von Mensch zu Mensch ausgetragen, wobei sich der, welcher im Recht ist, den gleichen Gefahren aussetzt wie der andere.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Ungarn
© 1998- Schule des Rades
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