Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Ungarn
Veränderung und Neuerung
Hier ist denn der Ort für eine weitere Betrachtung über die Blutsfrage. Meiner Ansicht nach beruht die Überlegenheit der Magyaren in sehr hohem Grade auf ihrer turanischen Blutbeimischung. In der ganzen Geschichte haben sich die turanischen Herrenvölker als die erwiesen, welche die größten Herrschertypen hervorbringen. Nie haben die Arier der Geschichte, die es an Blutdurst und Zerstörungstrieb mit allen Stämmen aufnehmen konnten, ähnlich Gewaltige hervorgebracht, wie es Attila, Dschingis Khan und Timur waren. Und wo immer turanisches Blut sich mit anderem hochgezüchteten mischte, ergab dies Einzelpersönlichkeiten von unvergleichlichem Rang. Nie hat der Westen einen Mann geboren, welcher Akbar gliche, dieser Kreuzung von Timuriden- und Rajputblut. Beinahe jedesmal, wo sich ganz großes Willensmenschentum offenbarte, legen die Züge die Annahme noch so weit zurückliegenden mongolischen Bluteinschlags nahe; so neuerdings bei Lenin nicht allein, sondern auch bei Clémenceau. Ähnlich nun liegen die Dinge völkisch. Wo Turanier sich günstig vermischten, ergab dies Völker von Adel und Schönheit. Die Türken, die zuerst nach Kleinasien kamen, sahen den heutigen Kalmücken gleich; die Byzantiner fanden nicht genug der höhnenden Worte ob ihrer Scheußlichkeit. Seit lange nun sind die echten Türken nicht nur eins der vornehmsten, sondern auch der schönsten Völker. Nicht anders steht es mit den Magyaren im Vergleich zu denen, welche zuerst in die Pußta einfielen. Die besondere Tugend turanischen Bluts erweist sich aber vor allem an der Charakterstärke. Ein großes Volk sind die Russen nicht ob ihres Slawentums, sondern dank der Kraft, die Mongolenblut ihnen und keinem anderen Slawenstamm in gleicher Qualität und gleichem Maße zumischte; so kam die großartige Spannung zwischen weichem Seelentum und harter Herrschaftlichkeit zustande, die den russischen Menschen so weit erscheinen lässt. Dank gleichartiger Kraft unterscheiden sich die Magyaren von allen Völkern, mit denen sie seit Jahrhunderten zusammenwohnen, an die sie angrenzen und mit denen sie sich auch immer wieder vermischt haben; im Fall turanischen Bluts scheint geringste Zumischung zu genügen, um dessen Grund Vorzüge zu vererben; die ungarischen Magnaten haben sich von jeher mit österreichischen und deutschen verschwägert und sind doch ganz anders stark als sie; die Türken gar haben von jeher ihre Frauen beliebig gewählt und sind doch ein reines Herrenvolk verblieben. Ohne Zweifel rührt andererseits auch das Negative am ungarischen Charakter vom Turanierblute her. Nicht allein ist ihre Prachtliebe oft östlich im schlechtesten Sinn; nicht allein ist ihre Eitelkeit im unangenehmen Sinne orientalisch — aus irgendeinem Grund nimmt diese von Mitteleuropa bis zum Bosporus proportional der Kilometerzahl zu, so dass der alttürkische Höflichkeitskodex vor einem andern sogar zu denken verbot, was diesem nicht angenehm sein könnte, und jeder griechische Kellner das Selbstgefühl eines Alkibiades zur Schau trägt: die seelische Unentwickeltheit, von der ich vorhin schrieb, hat sicher mit zur Ursache, dass eine gewisse angeborene Seelenlosigkeit besteht. Spricht ein Deutscher von Seele, so versteht der Magyare instinktiv darunter Herz oder Temperament, also das, was jener mit Seele
gerade nicht meint. Alle Turanier sind nüchtern, unmetaphysisch, durchaus von dieser Welt. Sie erschienen im ganzen Verlauf ihrer Geschichte nicht nur insofern als seelenlos, weil sie wesentlich taten
und deshalb nicht viel erleben
konnten: ihre Naturanlage ist eine einseitig kriegerische und herrscherische, und das will sagen: sie sind Menschen von Phantasie und Willen, doch von gering entwickeltem Gefühl. Jeder Menschentyp ist einseitig; wer Länder überrennen, Völker beherrschen will, dem muss, außer in genialem Ausnahmefall, das Sympathievermögen des gefühlsbegabten Pathikers fehlen. Aber die turanische Nüchternheit ist auch unter Herrenvölkern ein besonderes; ebendeshalb erscheint sie durch so wildes Dionysiertum kompensiert. Hier führt ein Vergleich mit den blutsverwandten Russen tatarischer Abstammung, den Türken und den Esten zur besten Bestimmung. Das mit finnischem und mongolischem Blut durchsetzte russische Bauerntum ist ohne jeden Idealismus im westlichen Verstand. Idealistisch war in Russland allein der Adel, dessen Blut vorwiegend slawisch und litauisch, mit germanischem Einschlag war; aber sogar Leo Tolstoi konnte behaupten, ein einziges Paar Stiefel sei wichtiger als alle Kunst. Heute nun tritt im Geist des Bolschewismus rein turanischer Geist zutage: seine Welt entbehrt jeder Gefühlskomponente, jedes Verständnisses für nicht praktische Werte. Die Türken waren immer nur als Herren groß; an Geistigkeit und Seelenhaftigkeit standen sie unter den beherrschten Völkern. Bei den Esten nun geht die turanische Nüchternheit so weit, dass andere als rein praktische Fragen überhaupt nicht verstanden werden; sie haben überhaupt keine Ideale im westlichen Sinn. Von hier aus wird denn verständlich, warum die Turanier von jeher (man denke an die Sagen Irans!) als Träger des bösen Prinzips galten: ihnen fehlte wirklich mehr als anderen das, was in unserer Welt als Seele gilt. Aber das sogenannte böse Prinzip ist, wie ich in Wiedergeburt gezeigt habe, andererseits ein absolut positiver Faktor im Weltzusammenhang. Es ist nichts anderes als das Prinzip des Neins, der Begrenzung, der Veränderung und Neuerung. Ist es das Prinzip der Zerstörung, des Todes, so ist es zugleich das des Neuaufbaus, der Wiedergeburt. Deshalb stammt aller Fortschritt von Kain; insofern kann Macht überhaupt nur aus dem Geist des Bösen heraus ausgeübt werden. So sind denn, was immer das Vorurteil der Schwachen glaube, die von Natur aus bösen
Völker ipso facto die prädestinierten Herrenvölker. Wer nicht den Mut zum Neinsagen und damit zum Töten hat, der kann nicht Form schaffen oder geben, denn jedes Positive hat sein entsprechendes Negativ. Damit wären wir denn auf dem Umwege über eben das, was die heutige Unterdrückung der Ungarn rechtfertigen soll, zur letzten Fundierung der Berechtigung ungarischer Vorzugsstellung gelangt. Die Ungarn sind geborene Herren. Die angrenzenden Völker, mit Ausnahme vielleicht der Serben, sind es alle nicht. Wie sollten sie nicht bald wieder eine bedeutende politische Rolle spielen? Zumal sie darin den Türken ähnlich sind, dass sie einen sicheren Sinn für das jeweils Mögliche haben. Sie können, wo nötig, extrem opportunistisch sein; wenn nicht gerade die Phantastik mit ihnen durchgeht…