Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Die Schweiz
Geist der Unabhängigkeit
Unter Völkern bietet meines Wissens kein zweites solch Beispiel intimer Tragik, wie das Schweizer Volk. Intime Tragödien sind drückender als alle, die sich vor der Öffentlichkeit abspielen, weil hier kein Erleben in der Vorstellung, bei sich und anderen, kein Bemitleidet-, kein Bewundert-Werden die Wirklichkeit positiv kompensiert. Und am schlimmsten wirken sich solche Tragödien aus, die den sie Erleidenden selbst nicht bewusst werden, die sich womöglich befriedigt fühlen dabei. Denn dann führt der Widerstreit zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, auf Grund psychologischen Gesetzes, zu desto unerfreulicheren objektiven Erscheinungen. Hier liegt die Ursache der meisten seelischen und wohl auch körperlichen Verbildungen, welche Bedrückte aufweisen; die Zufriedenen unter diesen sind nicht die besten, sondern vielmehr die schlechtesten, denn aus positivem Hass kann positive Liebe werden, während Bescheidung beim Niedrigen keinen Keim möglicher Befreiung in sich trägt. Die Schweizer sind nun freilich kein bedrücktes Volk. Sie gehören vielmehr zu denen in Europa, die zuerst ihre Selbstbestimmung errangen. Aber das Eigentümliche und Tragische zugleich ist eben, dass, was an sich
gut ist, dank einer Besonderheit von Umständen auf einen großen und jedenfalls den augenfälligsten Teil der Bevölkerung wie Bedrückung gewirkt hat. Deshalb ist richtiges Verstehen des Schweizer Zustandes für alle von Bedeutung: alle Völker können, wenn die Befriedung Europas fortschreitet, in die Lage des schweizerischen kommen.
Zunächst zur Natur: Diese herrliche Bergwelt ist dem Menschen für die Dauer offenbar nicht hold. Wie ich in der Zeit nach 1918, da alle Welt in der Schweiz das Vorbild des künftigen Europas sah, meinerseits den Historiker Johannes Müller studierte und einen berühmten Gelehrten des Landes dazu beglückwünschte, dass die Schweizer so viel früher als andere Vernunft bewiesen hätten, erwiderte er, schweizerisch-grimmig lachend: Sie vergessen unseren endemischen Kretinismus. Zweifelsohne ist die Natur an vielem schuld. Nicht nur der Kropf, der ganze außerordentliche Schönheitsmangel des Volks geht gewiss zu einem nicht geringen Teil auf ihren Einfluss zurück. Mit ihr zusammen hängt sicher auch das Schwyzer Dütsch. Es mögen im Lauf der Jahrtausende andere als germanische Dialekte auf Schweizer Boden geredet worden sein — Aussprache und Tonfall waren wahrscheinlich schon bei den Pfahlbauern die gleichen. Und sie sind fürchterlich. Warum für dieses Bergvolk gerade Häßlichkeit charakteristisch ist, und nicht, wie bei den Kaukasiern, Schönheit, lässt sich zunächst nicht erklären. Wahrscheinlich liegen die Urverhältnisse hier ähnlich wie bei den Tibetanern und anderen Bergvölkern am Fuß der Himalayas. Die Häßlichkeit muss auch einen tiefen seelischen Grund haben, sonst wäre es jüngst, im Jahre 1930, in der Schweiz, und in ihr allein, nicht zu einer richtigen und leidenschaftlichen Volksbewegung gegen die Schönheitskonkurrenzen der Frauen gekommen. Nach der Ebene zu verwischen sich die Eigentümlichkeiten der Schweizer Bergstämme, doch der unwahrscheinlich breite Bücken, in der Uniform des eidgenössischen Gendarmen karikiert, das bald Steinerne, bald Knorrige der Gesichter, der spannerraupenartige Gang und die allgemeine Anmutlosigkeit bekunden auch hier unverkennbar den physiologischen Zusammenhang mit der Landschaft. Die eigentlichen Bergschweizer nun, und die sind der Kern der Rasse, haben etwas Gnomen- und Troglodytenhaftes, In ihren Adern fließt sicher allerältestes Blut, so wie denn Mime rassisch älter war als Siegfried.
Nun erscheinen diese Menschen, wo sie in dem ihnen ursprünglich gemäßen Zustand verharren, nicht allein, wie unter gleichen Umständen überall der Fall ist, echt, sondern überdies liebenswert. Der alte eidgenössische Geist, den ich so oft in Bergdörfern erlebt habe, jener Geist der Unabhängigkeit, der Unbeugsamkeit, der zähen Arbeit, der Hilfsbereitschaft und der Schlichtheit, ist absolut schön. Schön war er gleichfalls in seiner heute erstorbenen oder, wo er noch fortlebt, historisch bedeutungslos gewordenen Abart kernigen Stadt- und Landesvatertums. Aber dieser Geist erhält sich in seiner Schönheit, wie jede Lebens-Erscheinung auf Erden, nur in den ihm gemäßen Verhältnissen. Ich kenne einen Selfmademan, der bei aller rücksichtslosen Geschäftstüchtigkeit nicht nur ein anständiger, sondern ein angenehmer Mensch war, solange er in einer Dreizimmerwohnung lebte, der aber vollkommen demoralisierte, ja satanisch wurde, nachdem er ein ganzes Haus bewohnen konnte. So erscheint Schweizertum nur schön, wo sein traditioneller Geist den ihm entsprechenden Rahmen beibehalten hat. Und der muss eng sein, sehr eng, wie ein steil ausgehöhltes Bergtal.
Diese einzig echte Schweiz ist nun leider lange nicht mehr die, welche Europa, außer auf Hochtouren, zu merken bekommt. Ja, diese echte Schweiz, die im Herzen aller guten Schweizer weiterlebt und noch einmal, wo sie richtig eingerahmt erscheint, zum Liebenswertesten gehört, was es auf unserem Kontinente gibt, spielt im Bilde der Schweiz, welche Europa angeht, kaum mehr eine Rolle. Europäisch bedeutsam sind heute einzig Zürich, Genf, die Schweizer Institutionen, die schweizerische Neutralität und das Menschentum, das diesen vom nationalen Standpunkt nicht wesentlich schweizerischen Umständen entspricht. Bedeutsam sind die Schweizer heute nicht wegen ihrer Geschichte und nicht wegen ihrer nationalen Sonderart, sondern insofern, als neue Schweizer
entstehen könnten. Das könnte nämlich wirklich so kommen: wie die Juden einerseits wohl eine Rasse, vor allem aber ein sozialer Typus sind, der unter ähnlichen Bedingungen immer wieder ähnlich entsteht, so sind die heutigen Schweizer in erster Linie ein psychologischer Typus. Daraus allein erklärt sich, wieso neuerdings sogar solche, die erst persönlich als Kinder einwanderten, ebenso echte Schweizer werden können, so wie Europa die Schweizer sieht, wie nach Amerika Ausgewanderte zu Amerikanern werden. Vor hundert und weniger Jahren war dies nicht der Fall. Heute ist es so. Unter diesem psychologischen Gesichtspunkt und unter ihm allein will ich ein Bild der heutigen Schweiz entwerfen, so wie ich es sehe.