Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Die Schweiz
Selbstgerechtigkeit
Betrachten wir jetzt die Schweizer Situation von einem höheren Standort aus und gehen wir dabei nicht vom seelischen Zustand des Schweizer Bauern, sondern der Schweizer aus, die sich als Führer Europas fühlen. Das tun nämlich außerordentlich viele; es tun dies eigentlich alle, die vom Ausland her ins Auge fallen. Dies gilt zumal von den meisten schweizerischen Presseleuten. Auch das Unerfreuliche am Schweizer Zustand ist ein Beweis der Wahrheit, dass eine Bewegung, die gesiegt hat, eben damit erledigt ist. Das Pochen der Schweizer auf Freiheit in einer Welt, in der diese Gemeingut geworden, gehört vom Standpunkt der anderen ins Kapitel der capitolinischen Gänse. Die Geschichte der Kultur bewegt sich nie geradlinig, sondern in Zyklen. Daraus aber folgt, dass gerade Linien einerseits nur oberhalb des organischen Kulturwerdens, andererseits nur innerhalb eines gegebenen Zyklus sinnvoll zu konstruieren sind, und auch hier jeweils nur kurze Strecken entlang. Sobald ein neuer Zyklus begonnen hat, liegt das Fortschrittsmotiv nicht mehr in der noch so hohen Vollendung des überlebenden Alten, sondern beim noch so barbarischen Jungen. So lag es am Ende der Antike nicht bei den Alexandrinern, sondern den Germanen. Dies ist der Grund, warum alle verstehenden Geister des Westens immer mehr den aus dem vorigen Jahrhundert überkommenen Fortschrittsbegriff verwerfen. Er war nicht immer falsch; er war so lange sinngemäß, als er als Sinnbild aufsteigenden Lebens gelten konnte. Dies ist er ja auch heute bei den meisten Völkern des Ostens, die darum mit den gleichen Kategorien gut arbeiten, die bei uns versagen. Er ist es auch im erwachenden Spanien, nachdem dieses an mehreren Jahrhunderten historischer Bewegung bisher nicht teilnahm. Im übrigen Europa ist er’s nicht mehr, weil er keinem lebendigen Wachstum mehr zum Sinnbild dient. Die fortgeschrittensten Länder im Sinn der Ideale des 19. Jahrhunderts sind heute, soweit ich urteilen kann, neben der Schweiz, Neuseeland und Schweden, denn dort ist der größten Zahl das fortgeschrittenste
Leben gewährleistet; dort herrscht auch die konsolidierteste soziale Moralität. Doch in Neuseeland, wo die soziale Fürsorge ihr heutiges Höchstmaß erreicht hat, kommt keine Initiative mehr auf; dort ist über Wohlstand und Wohlleben hinaus nichts mehr zu wollen. In Schweden hat das Volk auf so hoher Stufe ein so vollkommenes inneres Gleichgewicht erreicht, dass alle Dynamik in Statik eingemündet ist. In der Schweiz nun mag es materiell noch so wechselnd gehen: institutionell und moralisch ist sie dermaßen saturiert, dass ihren Bewohnern die bloße Idee eines möglichen Fortschritts im großen über ihren Zustand hinaus widersinnig vorkommt; zumal sie innerlich bei der Reformation stehengeblieben sind; was seither geschah, zog ihre Seelen nicht mehr in Mitleidenschaft. Nun sind die Schweden und Neuseeländer in der glücklichen Lage, für absehbare Zeit auf traditionelle Art weiterleben zu können; sie sind Selbstversorger
, wie es in der Kriegszeit hieß. So sind sie zwar veränderungsfeindlich, doch ohne Ressentiment; ihre Selbstzufriedenheit ist nicht aggressive Selbstgerechtigkeit; sie sind Phäaken, keine Pharisäer. Die Schweiz ist keine Selbstversorgerin; sie ist heute auf Zwischenhandel angewiesen in jedem Sinn; sie muss, um zu leben, an den Veränderungen des Weltzustandes teilnehmen. Doch sie tut es nur äußerlich, nicht innerlich. So fühlt sie sich bei allem Glauben an ihre Vorbildlichkeit doch wesentlich unsicher. Dies ergibt denn die weltberühmte Schweizer Selbstgerechtigkeit.
Damit gelange ich zu dem, was jedem Nichtschweizer am Schweizer, der nicht in kleinen Verhältnissen lebt oder nicht auf einen der betrachteten funktionellen Typen hin typisiert ist, oder endlich, kein überlebender Kulturtypus des 18. Jahrhunderts ist, als Grundcharakteristik in die Augen springt. Es gibt heute keinen schlimmeren Pharisäer als den begüterten, gebildeten und zumal den schreibenden Schweizer. Man lese nur, wie die Schweizer Zeitungen allen Völkern von selbstverständlich eingenommener höherer Tribüne aus Lektionen erteilen; man höre sie als entscheidend die Tatsache proklamieren, dass Zürich oder Genf von Sowjetrusslands Zukunftsmöglichkeiten nichts hält; man lese zumal, wie Genfer Blätter in anmaßendster Form die Ansprüche beraubter Minoritäten ablehnen und ihnen allenfalls zugute halten, dass der Ton ihrer Eingaben beweise, wieviel ihnen am Genfer Urteil liegt. Der Pharisäer ist nun der eine Mensch, für den es kein Weiterkommen gibt. Dies ist so, weil er endgültig verkrampft ist; sein ganzes Wesen ist stachelichte Abwehr; er stellt einen analytischen Fall dar durch und durch, und zwar einen extremen Minderwertigkeitsgefühls. Das kann ich auf Grund der Reaktion der Schweizer Majorität auf dieses Buch als für experimentell erwiesen erklären. England, Frankreich, Spanien, sogar Deutschland und Schweden haben bei aller gekränkten Eitelkeit doch nie häßlich reagiert. Häßlich reagierte zunächst Italien, trotz meiner positiven Einschätzung des Fascismus, weil es nach über tausendjähriger Fremdherrschaft, sehr natürlicherweise, ein starkes nationales Minderwertigkeitsgefühl erledigen muss, wozu es sich zur Zeit überschwenglicher Selbstverherrlichung bedient. Verbissen häßlich reagierte Portugal, obgleich ich diesem allgemein verkannten, ja vergessenen Volk durch meine Neuentdeckung und mein Hervorheben seines Positiven geholfen haben dürfte. Dass auch diese Reaktion so sein musste, und meine Diagnose bestätigt, wird der verstehende Leser des Portugal-Kapitels ohne weitere Erläuterung begreifen. In der Schweiz nun bin ich von Schmähungen dermaßen überschüttet worden, dass ich jüngst einem Vertreter dieses Volks, der mir noch immer Vorwürfe machen zu müssen glaubte, sagte: Ich habe in etwa dreißig Seiten Ihr Land sachlich kritisiert; dieses hat mit schier dreitausend Seiten meist persönlicher Beschimpfung geantwortet. Gemäß dem demokratischen Majoritätsprinzip dürfte ich doch längst erledigt sein und keiner Bekämpfung mehr bedürfen.
Diese Reaktion war mir aber sehr willkommen, da sie im großen die Diagnose als richtig erwies, die C. G. Jung gleich zu Anfang stellte: Dass die Schweiz unangenehm auf Keyserling reagiert hat, beweist keineswegs Ablehnung, sondern dass der Schuss saß
… Und ebenso sinngemäß war es, dass mir die Nicht-Pharisäer unter den Schweizern beinahe ausnahmslos für die nationale An- und Aufregung dankbar gewesen sind.