Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Die Schweiz

Ideal der Enge

Nun zur sinnbildlichen Bedeutung des Schweizer Zustands im Zusammenhang Europas. Dazu knüpfe ich an den Gedanken des vorletzten Abschnitts wieder an. Die Schweizer sind das Volk des äußersten mir bekannten Ressentiments, weil sie ihrer modernen Stellung psychisch gar nicht angepasst sind. Sie fühlen sich nach wie vor als Pioniere der Freiheit, des Fortschritts. Das sind sie aber nicht mehr, denn die Freiheit, die sie meinten und vertraten, ist seither Gemeingut geworden; sie sind insofern ihre eigenen Klassiker. So muss jeder Hochmut auf ihren Zustand hin verbildend wirken. Und der Hochmut der Schweizer ist ungeheuerlich. Dass er hier Stolz auf Schlichtheit, Gediegenheit oder Gleichheit ist, anstatt auf anderes, ändert nichts am psychologischen Tatbestand. Vor allem aber wirkt ihr Anti-Aristokratismus heute seelentötend. Er hatte zur Zeit Geßlers freilich hohen Sinn. Heute, wo aller Feudalismus abgebaut ist, wo Kampf gegen Vornehmheit nicht mehr Kampf für äußere, sondern nur gegen innere Freiheit bedeutet, bedeutet er nichts Besseres mehr wie Kampf für niedrige gegen höhere Gesinnung. Und da alle nicht ganz unintelligenten Schweizer ahnen, wie die Dinge tatsächlich liegen, so ist die Folge Seelisch-Häßlichstes. Bei der Mehrheit äußert sich dies in Scheelsucht und Grobheit. Bei den besseren Einzelnen als eine besondere Art Verschlagenheit. Den wirklich Guten aber fehlt im letzten der Freimut. Nur zu natürlich. Während meiner Weltreise trug ich auf einem Maskenball das Gewand eines orientalischen Despoten und verstellte entsprechend mein Gesicht. Trotzdem es Maske war, stürzten sechs freie Schweizerinnen keifend auf mich zu und schimpften: so etwas würde bei uns in der Schweiz nicht erlaubt. Ganz gewiss ist dort heute jede Vornehmheit — ich meine gerade die echte — in den Augen der Mehrheit verpönt. Ein hervorragender Schweizer muss in seinem Land beinahe ebenso Versteck spielen, wie ein Monarchist in Sowjet-Russland. Dort tritt der Fluch aller Demokratie am stärksten zutage, nämlich die Feigheit gegenüber der öffentlichen Meinung. Auch in Amerika gilt diese als beinahe göttlich letzte Instanz; sonst aufrechte Männer strecken selbstverständlich vor ihr die Waffen, und sei schreiendstes Unrecht im Spiel. Aber beim Amerikaner ergibt dies trotzdem kein häßliches Gesamtbild, weil er wesentlich sozial ist; d. h. ihm geht die Gemeinschaft ehrlich, weil von innen heraus, dem Sonderwillen vor. Der Schweizer ist, als Deutscher, asozial. Darum ist seine Vornehmheitsfeindschaft häßlich schlechtweg.

Und hier erscheint denn die Schweiz als unmittelbar abschreckendes Sinnbild dessen, wozu ein innig zusammenhängendes Europa von morgen leicht auch anderweitig werden kann. Mit Absicht setzte ich meine Betrachtungen über dieses Land unmittelbar denen über Ungarn nach; ich wollte mich nicht wiederholen. Vornehmheit steht absolut höher als Unvornehmheit, der Edle absolut über dem plebejisch Gesinnten. Würde Europa je in diesem Sinne schweizähnlich, dann wäre es mit dem, was Europa von jeher und immer wieder groß machte, aus. Betrachten wir noch einmal, und jetzt von anderem Blickpunkt aus, das psychologische Bild der heutigen Schweiz. Das Schweizerische ist ressentimentbehaftet wie kein zweites Volk, weil sein Selbstbewusstsein den wirklichen Verhältnissen nicht entspricht. Die Schweiz wähnt das Land der Freiheit zu sein und ist heute in Wahrheit das der äußersten Enge, nämlich im letztlich über allen Wert entscheidend innerlichen Sinn. Im Mittelalter war äußere Kleinstaaterei allgemeine Lebensform; sie wurde durch innerlichen Universalismus kompensiert, im Sinn des Goetheschen äußerlich begrenzt, innerlich unbegrenzt. Dies galt damals auch von der Schweiz. Heute entspricht bei ihr das Innerliche dem Äußerlichen. Dementsprechend ist die Schweiz heute in allen Hinsichten Provinz. Dies aber ist die unmittelbare Folge der Demokratisierung. Gerade die Schweiz war ja bis zu Napoleon eines der aristokratischst strukturierten Gebilde — wie der Mensch einmal ist, kann nur das Ideal der Weite den äußerlich Beengten innerlich weit erhalten. In der modernen Schweiz herrscht gerade das Ideal der Enge; denn das ist eins mit dem Ideal des kleinen Manns. Darauf beruht einerseits gewiss, was als die politische Vorbildlichkeit der Schweizer gilt: auf das Elementare hin ist am leichtesten Verständigung möglich, und ebenso von diesem her, denn nur in der Blüte, bildlich gesprochen, nicht an der Wurzel, unterscheiden sich die Menschen voneinander. Aber diese Vorbildlichkeit besteht andererseits auf Kosten der Möglichkeit höheren und freieren Menschentums. Am Beispiel der Schweiz sollte Einsichtsfähigen endgültig klar werden, wie zwangsläufig ein auf einen kleinen Rahmen hin typisierter und nun in weite Verhältnisse gelangter Mensch, so er nicht innerlich weit ist, verdirbt. Die Generationen lang befolgte Neutralität hat die Schweizer Oberschichten reich, zum Teil unermeßlich reich gemacht. Und wie überall die materielle Macht entscheidet, so liegt trotz aller Verfassung auch in der Schweiz auf ihnen der faktische Bedeutungsakzent; im Falle der Schweiz schon deswegen allein, weil sie allein in der Lage sind, am internationalen Leben anders wie als Fremdenindustrielle teilzunehmen. Diese reichen Schweizer nun aber sind gesinnungsmäßig erst recht kleine Leute. Hier setzt denn der Fluch des ursprünglichen calvinischen Geistes ein. Der Wohlstand muss in der Lebenshaltung verheimlicht werden. Das gilt nicht nur von Genf, wo die Nachwirkungen des calvinischen Spitzelwesens, welches jeden seinen Wohlstand zu verbergen zwang, bedingt, dass noch heute vielfache Millionäre fast ohne Dienstboten leben, sondern sogar vom froheren, weil Zwingli-beseelten Zürich. So leben denn auch die reichen Schweizer relativ ärmlich. Desto mehr aber leben sie für ihren Besitz. Sie sind keine Calvinisten im Sinn der Pilgerväter, die zwar Reichtum auch nicht genießen durften, desto mehr jedoch zur Ehre Gottes mit ihm wuchern mussten: sie denken und fühlen im Sinn des Sparstrumpfs des Kleinbürgers. Gediegenheit ist ihr eines Ideal. Sie verstehen überhaupt nicht auszugeben. Nun ist der eine Sinn des Geldes, ausgegeben zu werden. Freilich soll man zunächst Geld haben oder verdienen. Ohne materielle Macht ist Ideales im großen leider nicht zu verwirklichen in dieser materiellen Welt; deshalb verbildet, innerlich, jeden, der nicht geborener Asket ist, äußere Beschränktheit. Und nur der äußerlich nicht bloß Unabhängige, sondern Mächtige ist bis auf seltene Ausnahmen innerlich ganz frei. Aber wer da hat, hat nur dann zu gutem Ende, wenn er sein Haben als Verpflichtung zum Geben auffasst, wie dies der Grandseigneur tut; hält dieser haus, vermehrt er seinen Besitz, so tut er’s, um immer und mehr geben zu können. Nur deshalb darf Sparen beim kleinen Mann als Tugend gelten, weil er, sozial beurteilt Kind, zunächst einmal haushalten lernen muss, um dann später aus sich ein höheres, weiten Verhältnissen gewachsenes Gleichgewicht zu entwickeln. Geld sinnvoll ausgeben ist nämlich viel schwerer, als Geld sammeln; deshalb kommen auf Millionen redlicher Sparer, die ihren animalischen Trieb zum Vorrat-Sammeln ausleben, nur wenige, die richtig auszugeben wissen. Aber sobald die Seele ja sagt dazu, wirkt Sparen immer verheerend. Es verstärkt den Trieb zur Sicherung, den schlimmsten Hemmschuh auf dem Weg zur inneren Freiheit, denn diese steht und fällt mit dem Willen zum Risiko. Und zwangsläufig mündet es schließlich ein im Geiz, diesem schlimmsten und gottlosesten aller Laster. So sind denn auch die modernen Demokratien, die einen modernen höheren Menschentyp entwickelt haben, über das bürgerliche Sparideal hinaus: in Amerika ist Grundsatz, auszugeben was man verdient. Freilich sollte Geld nicht vertan werden, solange es Armut gibt. Aber so paradox dies klinge: gelegentliches Vertun und Verständnis für solche Liederlichkeit schaden einem Volk viel weniger, als allzu große Ehrbarkeit. Hier, wenn irgendwo, hat der Sünder vor dem Gerechten den Vortritt. Noch einmal: Wer viel Geld hat, dem ist oberste Pflicht, es sinnvoll auszugeben. Wer nicht ein hohes Einkommen auszugeben versteht, der, nicht der Leichtfuß, hat kein Recht darauf, denn der Leichtfuß verarmt doch wenigstens und verliert damit seinen ungerechten Mammon. In der Schweiz tun vielfache Millionäre so, als hätten sie keine dreitausend Fränkli jährlich zu verleben, und das ganze Volk sieht eine Tugend darin. Sie sparen, sparen, sparen, sparen grenzenlos. Ihnen fehlt jedes Verständnis für das Ideal der schenkenden Tugend. Fragt man solche kleinbürgerliche Krösusse in ihren jungen Jahren, warum sie sich dies und das nicht leisten, so erwidern sie: wir haben noch nicht geerbt. Später sparen sie für ihre Kinder.

Diese Tugend ist nun der tiefste Grund der moralischen Häßlichkeit des heutigen Schweizer Typs. Von provinzieller Enge als Wert, von Kleinbürgertum als Ideal her kann höheres Menschentum unmöglich erblühen. Und zwar weniger denn je in der modernen, sehr weit gewordenen Welt. Das Bürgerzeitalter ist historisch um. Und wenn auch einzig ein seigneuriales groß sein kann, so ist sogar ein proletarisches besser als ein bourgeoises. Der zurückgedrängte Bourgeois wird dementsprechend immer kleiner und häßlicher. Dieser Prozess ist beim schweizerischen Volk in klassischer Klarheit zu verfolgen. So kann denn den Schweizern nur eine nationale Psychoanalyse helfen. Sie müssen sich ihren wahren Zustand eingestehen. Bei den Schweizern, die als Typen der neuen Schweizer Situation schon angepasst sind, fehlt ja schon heute alles wesentlich Häßliche. Diese müssen zur Norm werden. Die heutige Schweizer Selbstgerechtigkeit muss sich in echte Bescheidenheit verwandeln. Die Schweiz muss einsehen, dass auch auf ihrem Boden die alte Zeit um ist, und dass sie neuwerden muss. Dass sie vorwärts, nicht rückwärts zu blicken, dass sie ihren Stolz nicht auf ihrer Vergangenheit, sondern in dem Willen einer höheren Zukunft zu begründen hat.

Wird es dazu kommen? Das weiß ich natürlich nicht. Soviel aber kann ich sagen: kommt es dahin, dann, aber dann allein wird die Schweizer Menschheit wieder schön werden. Sie war ja so lange schön, als sie ihre Sendung ihrem wahren Sein gemäß auffasste. Die Schweizer waren in den letzten Menschenaltern ein Volk der kleinen Leute. Sind sie dies wesentlich, dann dürfen sie nur das wollen, was kleinen Leuten ziemt. Und als solche können sie eine richtige Menschheitssendung haben. Ein sehr großer Teil aller Menschen gehört diesem Typus an: deren Rechte zu vertreten, wäre eine ganze Nation dieses Typs besonders berufen; sie wäre überhaupt dazu berufen, für die Schwachen gegen die Mächtigen einzutreten. Aber leider steht die schweizerische öffentliche Meinung gerade in dieser Zeit wie nie vorher unterdrückter Minoritäten auf der Seite der Großen und Mächtigen … Oder aber die Schweizer sind keine kleinen Leute mehr: dann müssen sie sich an neuen Normen bilden.

Soll ich Bestimmtes zu raten wagen? Die Schweiz sollte sich fortan an dem Schweizer Typus polarisieren, den heute meines Wissens Carl Gustav Jung am besten vertritt. Auch der bedeutende Schweizer ist grundsätzlich ein rauher Mann, ein Bär, ein Produkt von Urgestein und zähem Bauerntum. Aber er ist zugleich auf seine besondere Weise vornehm. Er ist unabhängig, im währen Sinn bescheiden, im echten Sinne schlicht. Er ist vor allem neidlos. Mit den besten Europäertypen hat er nur wenig Ähnlichkeit. Desto mehr jedoch mit den besten Vertretern des alten, heute ausstrebenden Amerika. Und das ist wohl verständlich. Der Amerikaner ist das Produkt der Verpflanzung eines ursprünglich Beengten in sehr große Weite. Seine Großzügigkeit erwuchs in ursprünglicher Gegensatzstellung zu feudaler Vornehmheit. Seinen Reichtum schuf der Geist nicht des ritterlichen Eroberers, sondern des Puritaners. Amerika und die Schweiz sind also insofern innerlich verwandt, als in beiden Fällen der Volkstypus nicht von freien Herren, sondern von freien Bauern seine Prägung erhielt und in beiden Fällen traditionsmäßig kleine Leute mit entsprechenden Idealen und Normen später reich wurden. So tun die Schweizer nicht unrecht, wenn sie die Vorbilder zu ihrem neuen, größere innere Weite erfordernden Zustand in Amerika und nicht in Europa suchen. Äußere und innere Weite stehen in Korrespondenzverhältnis. Der innerlich Überlegene ist dem äußerlich Reichen physiologisch verwandt. Deshalb steht die Kleinheit der Schweiz einer Amerikanisierung im Guten nicht entgegen, wenn nur der bedeutende, d. h. der innerlich weite Mensch und nicht, wie bisher, der kleine Mann als nationales Vorbild gilt. Viele der besten jungen Schweizer erstreben für ihr Volk allerdings eine neue Europa-unmittelbare Sendung, so wie es im Mittelalter im wahrsten Sinne reichsunmittelbar war. Diese Jungen sehen im traditionellen Wächtertum der Schweizer — sie hüteten die wichtigsten Bergpässe, sie stellten die treuesten Leibwachen — ein mögliches neues Nationalideal. Andere wieder glauben an eine Überwindung des heutigen Zustandes aus dem neuerwachenden Geist des alten deutschen Reichs heraus — und wirklich sind noch die heutigen Schweizer im historischen Verstände reichsdeutscher als die Neudeutschen1. Ich zweifle nicht daran, dass aus diesen Kreisen besonders gute und bedeutsame Europäer hervorgehen werden. Aber die Geschichte der letzten Jahrhunderte ist nicht rückgängig zu machen, und diese bedingt Konvergenz nicht mit Europa, sondern mit Amerika. Das eigentliche Amerika ist im selben Sinn das Land der kleinen Stadt, wie die Schweiz das des Kantönli. Richtig adelige Gesinnung ist dort als Typus unbekannt. Ein reiches Ausschlagen seiner Natur und deren Vollendung im höchsten Sinn ist dem Amerikaner im Europäersinne schwerer erreichbar. Aber jede Seele sucht sich wohl den Körper, der ihr entspricht. Über sein ursprüngliches Format und seine ursprüngliche Qualität bis zur Sprengung der Urform hinauszuwachsen, ist niemandem beschieden.2

1So schreibt mir ein junger Schweizer:
Wir sind das Ergebnis von drei Revolutionen, die uns den westlich demokratischen Zustand direkt auf einen mittelalterlichen aufoktroyiert haben. Wenn man über die Schweiz etwas Richtiges sagen will, so darf man nie von schweizerischem Wesen sprechen, denn das gibt es nicht, ein Freiburger Aristokrat ist von einem Genfer Calviner und der wieder von einem Züricher Industriellen unendlich viel verschiedener, als ein pommerischer Gutsbesitzer von einem bayerischen Beamten. Wir sind in unseren entscheidenden Bestandteilen eine völlig auf die Spitze getriebene Fortsetzung des alten Reichs, und über diese starke Differenziertheit hat sich dann eine westliche Ideologie mit ihrem zeitbedingten Typus erhoben, hat verflachend-ausgleichend gewirkt, aber ohne tiefgreifendes Ergebnis; das andere steht immer wieder auf … Bei dem Prozess einer konservativen Revolution in der Schweiz, wie im Deutschen Reich in anderer Weise auch, ist die Hauptsache das stille Fördern des Wachstums, ohne es je zu besprechen, vor allem von außen nicht; es darf keine Gegenideologie entstehen, sondern das organische muss langsam und unmerklich das ideologische Gebilde sprengen. Um das edlere zu erkennen, das unter dem Ressentiment des 19. Jahrhunderts wieder hervorbricht, muss man sich an gewisse allgemeine Züge dieses seltsamen kleinen Volkes halten, beispielsweise, dass es nicht mehr nachträgt wie früher, nicht mehr vergilt, sondern beginnt, Generosität und Humor zu zeigen.
2Die eigentümliche Konvergenz des Amerikaners, der im Boden des neuen Kontinents Wurzel zu schlagen beginnt, mit dem Schweizer behandele ich eingehend im ersten Kapitel von Amerika, der Aufgang einer neuen Welt.
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Die Schweiz
© 1998- Schule des Rades
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