Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Die Niederlande
Gesetze der Vererbung
In vielen Hinsichten ist Kultur unstreitig naturfeindlich. Alte Geschlechter werden auf die Dauer klein und häßlich. In England müssen — oder müssten, falls sie ästhetisch empfänden — unverhältnismäßig viele Herzöge Bärte tragen; die traditionellen schönen scharfgeschnittenen Züge trifft man heute am häufigsten im Volk. Um je jüngere Jahrgänge es sich handelt, desto öfter begegnet man unter Gebildeten schweinchenartigen Gesichtern, mit zurücktretendem Kinn und dem Gegenbild von Adlernasen. Anscheinend setzt die Natur es, wo immer Zucht statthat, wie aus malice oder Ressentiment darauf an, sobald es irgend geht, das Minderwertige zu potenzieren. Daher, dass es nicht gleich gelingt, weil anfangs ursprünglich Bestes hochgezüchtet wird und die Menschen lieber Erinnerung wiederkäuen, als sich der Anstrengung unterziehen, Neues zu bemerken, rührt das Vorurteil, dass kulturelles Alter ohne Rücksicht auf Zeitgrenzen günstig sei. In Wahrheit bedeutet die Habsburger Lippe, als Sinnbild betrachtet, das für die Dauer Normale. Ohne Zweifel kann diesem Verhängnis, sowohl auf physischem wie auf geistigem und moralischem Gebiet, wo das gleiche Gesetz nur unter günstigeren Zeitbedingungen waltet — ich meine: Familien bleiben in der Regel länger anständig und gescheit als schön — in erheblichem Grade vorgebeugt werden; die Hoffnung ist sogar nicht unbegründet, dass dies in wachsend höherem Grad gelingen wird, da die Eugenik die Gesetze der Vererbung in größerer Vollständigkeit als irgendein früherer Zuchtgedanke berücksichtigt. Aber ganz wird dem Verhängnis nie zu steuern sein. Der Geist ist offenbar nicht von dieser Welt; nur bei extrem takt- und verständnisvoller Behandlung lässt ihn die Natur passieren. Wennschon alle Taubenvarietäten, sich selbst überlassen, früh oder spät entweder aussterben, oder aber in die simple Höhlentaube Zurückschlagen; wennschon veredelte Pferde und Kühe nur im Falle nie aussetzender supremer Menschen-Weisheit fortleben und selbst dann an Fortpflanzungskraft gegenüber Natur-, nicht Geistgewollten verlieren, so gilt gleiches im allerhöchsten Maße bei der Spezies Homo sapiens Linné, weil der Geist hier nicht nur von außen, sondern auch von innen her wirkt. Der letzte Mensch wird aller Wahrscheinlichkeit nach der größte Esel sein. Verjüngung bewirkt allemal nur frisches Blut. Wenn die meisten ganz großen Begabungen unvorbereitet auftreten, so hängt das damit zusammen, dass nur unverbrauchte Natur den Druck des Geists verträgt. Wenn die meisten unter diesen, andererseits, keine gleichwertigen Nachkommen hinterließen, so liegt’s an dem, dass Natur Geist nie lange aushält und duldet. Hier fassen wir die ewige Bedeutung undifferenzierter Unterschichten: es versiege die Möglichkeit der Verjüngung aus reiner Natur, und die Manifestationsmöglichkeit des Geists auf Erden wäre hin. Gewiss hat Kulturblut vor naturnahem das voraus, dass es gegen die Gefahren zivilisierten Lebens besser immunisiert ist. Doch die bestimmunisierten Familien sind, bis auf seltene Ausnahmen, leider zugleich die dümmsten und die häßlichsten.
Soviel von dieser Seite des Problems. Andererseits liegt nun in der Häßlichkeit, diesem Racheprodukte der Natur, zuweilen eine wichtigste psychologische Wurzel von Kulturgestaltung. Irgendein Nicht-Haben muss vorliegen, damit der Mensch über das Gegebene hinausstrebe. Die Französin kleidet sich nicht zuletzt deshalb am besten, weil sie von allen Europäerinnen am schlechtesten gewachsen ist. Beispiele, die diese Deutung des Tatbestands bekräftigen, ließen sich häufen. Doch ich kenne nur einen Kulturkreis in Europa — das Wort ganz allgemein, ganz unorthodox, also nicht im Frobeniusschen Sinn verwendet — wo es eine Kultur der Häßlichkeit gäbe: das ist der niederländische.