Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
England
Machtinstinkt
Der Engländer steht, psychologisch beurteilt, dem Tiere zweifellos näher als dem intellektualisierten Europäer. Nur wer dies einsieht, wird ihm gerecht. Ihm wird Heuchelei vorgeworfen: niemand heuchelt weniger als er, und zwar gerade, wo er unter der Firma idealer Ziele rücksichtslos seinen persönlichen Vorteil wahrt. Denn an seine Ideale glaubt er bewusstermaßen wirklich, genauso wie an seine Religion; der Triebfedern seines Unbewussten ist er sich gänzlich unbewusst. Eben deshalb wirkt er so selten moralisch häßlich. Diese Wirkung erfolgt nur, wo eine selbstsüchtige Tat mit dem Bewusstsein ihrer Bedeutung geschieht. Solches gilt am meisten vom Deutschen; ihm verzeiht man nichts, denn man fühlt, dass er wissen könnte und sollte. Hätte er beim Ränkespiel der Politik wenigstens das naiv gute schlechte Gewissen des Italieners, so wirkte er auch noch unschuldig. Vom Deutschen aber weiß man, dass man ihm alles nur mögliche Gewissen zutrauen darf. Dem Engländer nun verzeiht man buchstäblich alles, weil er, vom Reflexionsstandpunkt beurteilt, Tier ist. Seine Machtinstinkte wirken in ihm tierhaft unbewusst. Nie stellt sich ihm die Frage, ihnen nicht zu folgen. Solch großartige Unschuld und Unbefangenheit ermöglicht natürlich erst recht in unserer überbewussten Zeit das sonst Unmögliche. England breche noch so viele Verträge — man hasst es wohl, doch nie mit häßlichen Gefühlen. England hat Deutschland zweifellos mehr Schaden zugefügt als Frankreich, und doch ist es mit allem Englandhass in Deutschland vorbei. England hat Indien gegenüber keine Zusage des Kriegsbeginns und -endes gehalten, und doch hat es das Vertrauen der meisten Inder so wenig verloren, dass das spätere Erzwingen mancher von jenen durch diese im Bilde eines freundlichen Zugeständnisses Englands im indischen Bewusstsein fortlebt. Ganz wunderbar versteht es im Falle Englands der tierische Machtinstinkt, die Mittel des Menschengeists seinen Zwecken dienstbar zu machen. Dies gilt zumal von der Sprache. Was einmal gesagt worden ist, wird im richtigen Augenblick faktisch vergessen. Es wird grundsätzlich nie ausgesprochen, was zu verschweigen zweckmäßiger erscheint. Mehr als ein Kolonialbesitz gelangte so in britische Hände, dass zuerst ein privater Buccaneer sich an fremdem Eigentum vergriff. Erhoben die geschädigten Fremden Vorstellungen, so blieb England taub. Es nahm jedoch, ebenso taub für alle Gründe und ohne auf Einwände zu antworten, den britischen Bürger in Schutz, wenn nun die Fremden sich selbst zu ihrem Recht verhelfen wollten. Kürzlich wurde einem Deutschen, den ich kenne, da er das Recht dazu nachweisen konnte, offiziell sein beschlagnahmtes englisches Vermögen freigegeben. Doch der Verwalter gab es nicht heraus. Er antwortete einfach nicht, und so wird England das Geld wohl behalten, denn der einzige Ausweg läge jetzt in einem Prozess, der unter allen Umständen zu teuer zu stehen käme. Sicher fühlt sich der betreffende Trustee dabei ehrlich. Tiere denken eben nicht nach. Sie haben ganz unschuldig kein Gewissen. So fanden die Klagen des von der Ostindienkompagnie so beispiellos ausgebeuteten Indiens so lange völlig ehrliche taube Ohren, als nicht der englische Machtinstinkt von sich aus Entgegenkommen gebot. Und ebenso behalten die heutigen Beamten Indiens, mögen sie noch so große Fehler begehen, ganz ehrlich immer recht, weil sie aus Selbsterhaltung nie unrecht haben können. Nicht anders fühlt sich England gegenüber Irland kindlich unschuldig.
Doch aus dem gleichen Machtinstinkt heraus weiß der Engländer im rechten Augenblicke zu verzichten, und er tut auch dies so selbstverständlich ehrlich, dass sich die Frage des Umfallens im Bewusstsein der anderen ebensowenig stellt, wie die der Schuld in den vorher betrachteten Fällen. Tiere können nicht inkonsequent sein. Und hierzu tritt ein weiteres: unwillkürlich empfindet jeder den Zustand vor dem Sündenfall, vor dem Essen vom Baum der Erkenntnis, als den seligeren. Eben in diesem Sinne unschuldig wirken die Briten. Weiß der Himmel, ob nicht Adam und Eva Allerschlimmstes anstellten, bevor sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten: jedenfalls trug Gott es ihnen dazumal nicht nach. Diese Tatsachen sollte jeder Philosoph und Moralist wohl bedenken: sie beweisen, wie mir scheint, abschließend, dass jedem alles zugestanden wird, was ihm entspricht, was er insofern unschuldig tut.