Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Die Niederlande

Schönheitskult

Was ist es nun mit dieser Kultur? Dass sie etwas in ihrer Besonderheit Menschheitsbedeutsames sei, steht natürlich nicht in Frage. Die Niederlande sind germano-romanisches Grenzgebiet, gehören also kulturell in diesen weiteren Zusammenhang hinein. Sie können nur in ähnlichem Sinne Sonderbedeutung haben, wie ein ausgezeichnetes Individuum inmitten einer gleichmäßig gebildeten Kulturschicht. — Hier müssen wir zum ersten Male scharf zwischen Belgien und Holland scheiden, weil der Bedeutungsakzent innerhalb des germano-romanischen Zusammenhangs in beiden Reichen an verschiedenen Orten liegt.

Beginnen wir mit Holland. Über dessen Kultur wäre zunächst zu sagen, dass sie wesentlich das ist, was man cossu heißt; mit diesem Adjektiv kennzeichnet der Franzose Stoffe, deren Wert groß, jedoch diskret, nicht auffallend ist. Wer keine Gelegenheit hatte, am Leben Amsterdamer Patrizier teilzunehmen — denn nur sie sind für Hollands Kultur repräsentativ, der Adel, der dort nichts bedeutet, ist es gar nicht —, merkt von Verfeinerung wenig. Wer hingegen in die besten Kreise jener eindrang, der lernte eine Atmosphäre kennen, aus der heraus das Mäzenatentum von Hollands großer Zeit ohne weiteres verständlich wird; denn ohne dieses hätte es wohl große Malertalente gegeben, jedoch keine große holländische Malerei. Diese Patrizier sind ungeistig, unproblematisch, weltzugekehrt in jedem Sinn, und doch durchaus Kulturtypen; überall, in allen Hinsichten erscheint der Stoff geformt. Dies schafft nun seinerseits eben deshalb den Eindruck besonders hoher Kultur, weil der Stoff ur-sprünglich besonders roh ist, weshalb nur starker Geist ihn überhaupt bändigen konnte. Allein das Sonderliche der holländischen Kulturgestaltung wurzelt doch nicht hier: sie wurzelt darin, dass ihre Form romanisch ist. Hier liegt denn der Schlüssel zum holländischen Kulturproblem: der Geist dieses kern-germanischen Volkes ist romanisch, und zwar in seiner heutigen Gestaltung vom Erz-Romanen Johannes Calvin geprägt. Dies ergibt, bei seiner natürlichen Ungeschlachtheit, eine selten starke Spannung. Auf dieser beruht denn letztlich alle holländische Produktivität. Diese Spannung hat die großen Charaktere des niederländischen Protestantentums geformt (wobei einem einfällt, dass wohl auch der englische Charakter im gleichen Sinne vorwiegend romanischer Prägung sein dürfte); sie ist die Ursache des holländischen Formensinns. Waren die Griechen bewusst nur apollinisch wegen des immer dräuenden Dionysos in ihrer Brust, so bedeutet der holländische Schönheitskult recht eigentlich Abwehr gegen den inneren Tölpel.

Was mich persönlich nun an Holland bei meinen verschiedenen Besuchen aus naheliegenden Gründen besonders beschäftigte, war die Ergründung des Sinns seines modernen Zustands im Zusammenhang mit der verlorengegangenen einstigen Großmachtstellung. Der Holländer ist dadurch nämlich nicht so provinziell geworden, nicht so eng, wie bei der ungünstigen Grundanlage zu erwarten stand. Einerseits hängt dies gewiss damit zusammen, dass Holland eben doch noch Kolonien hat. Das holländische Volk ist dadurch im selben Sinne, im Vergleich mit anderen kleinen Völkern, weit geblieben, wie der Hanseate weit ist gegenüber Binnenlandkrämern. Dann hängt es damit zusammen, dass der Holländer darin durchaus deutsch ist, dass kleine und nicht große Kreise sein Element sind. In seiner größten Zeit war Holland extrem partikularistisch, recht eigentlich ein Land bestimmender Vereine; so entsprach das Weite nie dem besten Wesen der Allgemeinheit. Die aufgezählten Umstände fallen gewiss ins Gewicht. Aber dass der Verlust seiner Großmachtstellung Holland weniger geschädigt hat, als man’s erwarten sollte, beruht doch vor allem auf dem Alter seiner Kultur. Hier nun liegt ein Vorbildliches, das in mir in Anbetracht der eingangs behandelten Geistfeindlichkeit der Natur und der besonderen Ungeschlachtheit der niederländischen Anlage neue Hoffnung für die Zukunft des Menschengeschlechts erweckt. Diese Kultur ist eine der ältesten der Erde. An dieser Landschaft brauste die Völkerwanderung vorbei. Schon zu römischer Zeit gehörten die Bataver zu den zivilisiertesten Barbaren. So besitzen die Niederlande fixierte Gefühle und kulturelle Instinkte, die sie von äußeren Zufällen in hohem Grade unabhängig machen. Damit gelangen wir denn zu einer Korrektur der Betrachtungen des Eingangs dieses Kapitels. Wird der Geist Fleisch, insofern seine Impulse sich den Gefühlen und Instinkten eingebildet haben, dann ist der Kultivierte dem Naturmenschen absolut überlegen. Hierauf beruht die universelle Überlegenheit des Adels. Eben hierauf die des echten Judentums. Auch die Juden sind alles eher als einseitig intellektuell — letzteres gilt nur von ihren entwurzelten Vertretern. Sie verdanken ihre Vitalität vielmehr der vollkommen richtigen Einschätzung des Bluts- und des Geistmoments in ihrem optimalen Verhältnis zueinander. Kein westlicher Adel wusste je so gut über die Tugend des Bluts Bescheid wie sie. Was an geistigen Werten an Blut gebunden ist, haben sie zu keiner Zeit verkannt. Kein Volk sprach je so viel vom Samen. Aber es wusste zugleich wie kein anderes, dass die biologische Vererbung beim Menschen in Funktion zweier Reihen auf einmal erfolgt: des Blutes und der Tradition. So war das Judenleben durch geistige Gesetze regiert, wie kein zweites je. Kein Goi macht sich auch nur eine Vorstellung von der Rigidität der Lebensnormiertheit, der sich der armseligste polnische Jude unterwirft. Ich musste die Juden heranziehen, um das Problem in seiner ganzen Spannweite hinzustellen: sind sie noch da und noch nicht degeneriert, obgleich sie Jahrtausende entlang unter schwersten Verhältnissen leben mussten, so bedeutet dies nur einen Beweis mehr, und zwar den schlagendsten Beweis dafür, dass Kulturblut ein Vorzug sein kann. Es ist ein absoluter Vorzug dort, wo der Geist Fleisch geworden ist. Nur wo dies gilt, ist das Wort Kultur andererseits überhaupt am Platz. Kultur nun hat ihren sichersten Gradmesser an dem, wieviel einer aushält, im Guten wie im Schlimmen. Im Guten: nur der geborene Herrscher verträgt überragende Machtstellung, nur der geborene Weise den Ruhm. Im Schlimmen: nur ein so hochkultiviertes Volk, wie es die Juden sind, konnte Jahrtausende der Knechtung ungebrochen überstehen. Während der Weltrevolution hat der Adel überall seinen Ruin besser überstanden als der Bürger. Vor allem aber verträgt nur der traditionell Kultivierte Niederlage — die ja, kosmisch betrachtet, eine genau so normale und positive Lebensform schafft wie Siegerstellung —, weil sein Selbstbewusstsein von der Meinung anderer nicht abhängt. So hat in großartigstem Sinne Spanien, so auch Holland das Ende seiner Weltmachtstellung überstanden.

Allein Holland hat es doch nicht ebensogut überstanden, wie Spanien, und in welchem Sinn dies gilt, scheint mir wiederum für das Wesen seiner Bewohner typisch. Holland stellt das extremste mir bekannte Beispiel der Möglichkeit dar, dass ein Staat eine Herabminderung erleiden kann, ohne dass seine Bürger verarmten. Im Verhältnis zur Bedeutung und Größe und Bewohntheit des Landes sind die Holländer wahrscheinlich die reichsten Europäer. Aber ihr Reichtum hat keine öffentliche Betätigungsmöglichkeit, welche Ehrgeiz weckte oder nährte. So hat auch der kultivierteste Holländer etwas von der Mentalität des Pfeffersacks, die Multatuli seinerzeit so leidenschaftlich geißelte. Dass Besitz verpflichtet, — diese Erkenntnis liegt ihnen von allen Europäern am wenigsten im Blut.

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Die Niederlande
© 1998- Schule des Rades
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