Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Spektrum Europas

Schweden

Sachlicher Regulator

Dementsprechend ist das heutige Schweden uninteressant. Wer es als Fremder besucht, kann es sinnvoll nur dazu tun, um auszuspannen. Und hier muss gleich wieder positives Urteil einsetzen: nirgends ist es erfreulicher, Gast zu sein (sofern der Körper die Strapazen des Wohllebens aushält), als eben dort. — Aber in einem Sinn ist Schweden doch interessant, weil sinnbildlich bedeutsam: in dem nämlich, dass vor kurzem die grundsätzliche Möglichkeit bestand, das Phäakentum von innen heraus zu überwinden und diese Gelegenheit versäumt ward. Als ich gebeten wurde, in einem meiner letzten Vorträge im Schweden­land etwas direkt an die Schweden Gerichtetes zu sagen, da lenkte ich erst die Aufmerksamkeit darauf, dass meine ganz aufrichtige Meinung vielleicht nicht unbedingt erfreulich klingen würde; denn wie alle Phäaken sind die Schweden ein äußerst selbstzufriedenes Volk — in einer sehr angenehmen und vornehmen Art, gewiss, ganz anders wie die Schweizer, etwa im Sinn einer vollbefriedigten einfachen Frau, die sich nichts wünscht, was sie nicht hätte — aber eben doch. Nachdem mir nun versichert worden war, ich dürfe sagen, was ich wollte, man würde mir gewiss nichts übelnehmen, da führte ich aus: Ihr seid nicht wenig stolz darauf, die Torheit des Weltkriegs nicht mitgemacht zu haben. Ich gebe auch zu, dass ihr diese eure Klugheit nicht schlecht vertragen habt. Trotzdem: es tut nicht gut, während das Jüngste Gericht tagt, vor der Türe zu stehen und Zigaretten zu rauchen. Schweden hat in der Tat dank seiner Neutralität den Anschluss an Europas neue Geschichte verpasst. (Dies gilt gewiss, mehr oder weniger, von allen neutral gebliebenen Ländern, mit Ausnahme Spaniens, das als außereuropäisches Land nicht mitzumachen brauchte, aber von diesen hätte Schweden allein überhaupt eine neue historische Zukunft haben können.) Denn das neue Europa ist eben das Kind des Weltkriegs. Den muss man erlebt haben, um weiter bedeutsam zu sein — auf welcher Seite stehend, ist demgegenüber gleich. Seit dem Dreißigjährigen Kriege nun hat Schweden in ähnlichem Sinne nichts mehr mitgemacht, denn der nordische Krieg war nichts Besseres als ein Kehraus auf Grund eigener Dummheit. Jetzt hat es die entscheidende Gelegenheit verpasst. Die ist in absehbarer Zeit kaum wieder einzuholen. Denn das Erleben des Weltkriegs war kein Äußerliches: es schuf in den Beteiligten eine neue, nie dagewesene Seele, die allein den neuen Verhältnissen angepasst erscheint. Aus diesem Grund verharrte ich, obgleich ich reisen konnte, von 1914 bis 1918 unentwegt in meiner baltischen Heimat: ich fühlte, nähme ich an deren Schicksal nicht lebendig teil, so wäre ich Emigrant, zwar nicht aus dem Raume, doch aus der Zeit. Und der Emigrant ist, sofern er in neuer Nationalität nicht aufgeht, nationaler Selbstmörder. So vermag denn Schweden, als Land wie als Volk, nur mehr als sachlicher Regulator in der Geschichte mitzuwirken, am Völkerbund, am Internationalen Schiedsgerichtshof, bei der Lösung der Frage der traite des blanches u. ä. Als lebendiger Faktor kann es das nicht mehr. Es ist organisch zurückgeblieben. Der Weltkrieg war letztlich eben keine Dummheit und auch keine Schuld, sondern eine psychologische Krisis, welche kommen musste. Eine bessere Zukunft ist nur auf der Basis der Veränderungen möglich, die sein Erlebnis bewirkt hat. So ist denn alles, was Schweden, bis auf wenige Ausnahmen, heute denken, nicht mehr europäisch repräsentativ. Es sind wie die Gedanken eines Privatiers inmitten heroischen Gründertums…

Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas · 1928
Schweden
© 1998- Schule des Rades
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