Schule des Rades
Hermann Keyserling
Das Spektrum Europas
Das Baltikum
Landschaftsgeist
Was ist es nun mit dem Baltikum als Ganzheit, von Europa her gesehen? Zunächst ist es ein Gebiet eigensten Geists. Ich kenne wenige Landschaften von gleicher Gestaltungskraft. Neueste Forschung weist den Völkern, die man früher kaukasisch oder indogermanisch hieß, meine Heimat als Urheimat zu; gern schenke ich dem Glauben. Sicher wohnten die Goten einmal dort. Das Estnische zählt in seinem Sprachschatz heute noch gotische Worte. Seither haben Völker finnischer, germanischer und slawischer Abstammung umschichtig prädominiert (die Letten, die heutigen Herren Lettlands, kamen erst nach den Deutschen hin; die Urbevölkerung, welche diese vorfanden, war nicht lettisch). Aber nicht auf der Abstammung ruht hier der Bedeutungsakzent, ebensowenig wie in den Vereinigten Staaten, sondern auf dem Einheitlich-Besonderen, in das alles Blut in den baltischen Landen eingeht. Der Reichsdeutsche, welcher im Baltikum auf wuchs, wurde Balte; so der Pole, Schwede, Russe, ja der Jude. Fand diese Assimilation nicht statt, so lag das daran, dass sich die Betreffenden — so vor allem die russischen Beamten — künstlich abschlossen. Gewiss ist der Balte kein festdefiniertes Gebilde. Sein nördlicher Typus berührt sich mit dem nordischen Menschen, der auch den Schweden und den Petersburger macht; sein südlicher und westlicher wiederum mit dem Polen. Und das Deutschtum der historischen Oberschichten gibt jedem Balten — wes Blutes immer, denn das Herrschende wirkt immer bildend durch Suggestion — einen besonderen deutschen Charakter, unabhängig von Sprache und Bildung. Aber sogar beim Deutschbalten macht nicht das Deutschtum den Balten, obgleich er bis auf seltene Ausnahmen einen stärkeren und ausschließlicheren Akzent auf sein Deutschtum legt als irgendein anderer Deutscher, sondern sein Baltentum. Dieses ist in abstracto schwer zu definieren, da es sich um ein Grenzgebilde handelt. Doch ein Blick auf das eine Analogon seiner, das es in Europa gibt, öffnet das Tor zum Verständnis: ich meine den Belgier. Belgien stellt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, psychologisch, französisch-deutsches Grenzland dar. Ob das Deutsche dominiert, wie beim Vlamen, oder das Gallo-Romanische, wie beim Wallonen: sein Belgiertum ist doch sein Wesentliches. So ist auch der Balte an erster Stelle Balte, gleichviel ob er mehr deutsch ist oder mehr polnisch, schwedisch (der Typus des Estländers ist entschieden mehr schwedisch als deutsch) oder russisch, ob er den völkischen Akzent auf das Deutschtum oder das Esten- und Lettentum legt. Jeder wurzelechte Bewohner der Baltikums wirkt auf den Außenstehenden in erster Instanz als Balte. In ihm leben, noch so unbewusst, deutsche Ideale, deutsche Kulturtradition und deutsches Ethos, skandinavische Unabhängigkeit, allgemein slawische Geschmeidigkeit und Schnelligkeit und spezifisch russische Urwüchsigkeit und Großzügigkeit als Elemente nebeneinander, das Ganze zusammengehalten durch den spezifischen Landschaftsgeist, welcher die Urform des Wikingers schuf. Denn der Wikinger war wesentlich wohl Balte: der abenteuerfrohe Sohn des baltischen Meers. In seiner Wikingerartung liegt denn auch die spezifische Grenze des heutigen Balten. Gleich den seefahrenden Normannen ist er seelisch nicht reich ausgeschlagen; leicht wirkt er trocken und dürr. Er ist klug, temperamentvoll, geistreich, doch nur im Ausnahmefall weltoffen im pathischen Sinn. Tritt hier noch Turanierblut als Dominante hinzu, wie bei den Esten, so werden Positivismus und Nüchternheit zu Grundzügen. Es gibt sehr viele mögliche und wirkliche Schattierungen, je nach der Verteilung der Elemente. Aber das Baltentum als solches ist dennoch überall das Grundcharakteristikum. Dessen reiner Typus tritt natürlich, wie überall, nur bei Begabtesten klar in Erscheinung; und unter diesen waren bisher alle oder doch fast alle deutschen Bluts. Aber diese Deutschen sind wiederum alle im gleichen Sinne anders wie Reichsdeutsche. Handle es sich um Harnack oder Patkul, Alexander von Oettingen oder Karl Ernst von Baer, den Chirurgen Werner Zoege von Manteuffel, den letzten Estländer des traditionellen großen Formats, Alexander Keyserling, meinen Großvater, den Mongolenhäuptling Ungern-Sternberg oder mich: immer war es der gleiche Grundtypus.
Ohne Zweifel nun werden die heute herrschenden Volksschichten des Baltikums immer mehr in den traditionellen Grundtypus hineinwachsen. Soweit sie von ihm abweichen, tun sie’s ja viel mehr als Unterschichten, denn als Träger besonderen Bluts. Und dass es auch in ihnen liegt, nach Überwindung des Untertanen- und Parvenügefühls zu Herrentypen zu werden, beweist schon heute ihre ausgesprochene Antibürgerlichkeit. Offenbar liegt das am Genius loci. Auch Schweden, auch Russland ist unbürgerlich. Aber Schweden ist dabei nicht aristokratisch, und Russland wesentlich unadelig; kann es heute im Zeichen der Diktatur des Proletariats regiert werden, so liegt das am gleichen Umstande, der den Russen von je mit seiner Niedrigkeit großtun ließ. Die baltische Landschaft hingegen gebiert immer wieder Herren.
Natürlich wird der Este und der Lette als Balte anders sein als der Deutschbalte; selbstverständlich spielt das Blutserbe mit und die psychologische Situation. Die Esten und Letten sind nur dem Geist des Nachkriegseuropas einigermaßen angepasst und verleugnen bewusst alle Tradition, zu der wir Deutschbalten uns bewusst bekennen. Die estnische Nüchternheit ist spezifisch turanisch, ebenso ihre Zähigkeit unverkennbar ist hier die psychische Verwandtschaft mit Ungarn und Türken. Andererseits haben die Esten viel Skandinavisches und wenig spezifisch Deutsches in ihrer Seelenstruktur. So ähneln die indogermanischen Letten wiederum den Slawen. Und doch sind beide Völker, wie sich jedem Außenstehenden auf den ersten Blick offenbart, der Deutschbalten nächste Verwandte; sie verhalten sich nicht anders zu diesen, wie der aus dem tiers-état hervorgegangene Franzosentyp zum alten Adel. Auch hier handelt es sich ja um rassenmäßig verschiedenes Blut. Überall in Europa, das seine Sonderart, im Unterschied von der Russlands, Amerikas und Chinas dem verdankt, dass seine verschiedenen Landschaften immer erneut erobert wurden, was immer neue Überschichtungen ergab, sind die verschiedenen Klassen grundsätzlich verschiedenen Bluts. Hieraus erklärt sich viel, zumal in der Geschichte der letzten zweihundert Jahre, wo die Religion der Gleichheit zum erstenmal dem Tatbestand eine mächtige Gegenideologie entgegensetzte. Sind alle Franzosen trotz aller Blutsverschiedenheit wesentlich Franzosen und (freilich in weit geringerer Vereinheitlichung) alle Deutschen wesentlich Deutsche, so liegt das daran, dass Geschichte und Landschaft zusammen das Verschiedenblütige psychisch zusammenschweißten. Im Baltikum nun ist es in erster Linie die Landschaft, die alle Bewohner des Baltikums zu Balten macht; sie ist von größter formender Kraft. Und besteht kein historisches Gemeinsamkeitsbewusstsein, so besteht andererseits in weit höherem Grade Blutsgemeinschaft, als die früheren Ober- und die früheren Unterschichten wahrhaben wollen. Alle Eroberer der Erde ohne Ausnahme zeugten Kinder mit den Töchtern des Landes. Insofern in früheren Zeiten, im Gegensatz zur heutigen, mehr Nachkommen der Ober- als der Unterschichten am Leben blieben, waren sie buchstäblich die eigentlichen Landesväter; im Anfang der Geschichte stammten oft ganze Stämme von Königen ab. So erklärt sich der durchgehend fränkische Typus der meisten Franzosen bis auf die des Südens und Westens — der eingewanderten Franken waren niemals viele. Gleiches hat sich in sehr hohem Maß im Baltikum ereignet. Zumal die Esten führen sich kaum weniger germanisches — schwedisches und deutsches — Blut in ihren Adern wie finnisch-ugrisches; überdies besteht wohl noch eine gotische Ur-Unterlage. Diese Blutgemeinschaft, nicht die Rassenverschiedenheit ist denn die Hauptwurzel des Extremismus der baltischen Agrarrevolution.